25 Jahre

Ein "Münchhausen-Effekt"

Strukturwandel

Errichtung des - NINO-Spinnereihochbaus, 1929. (Foto: Sammlung Zahn im Stadtmuseum Nordhorn)

Es ist 1956. Elvis Presley tritt zum ersten Mal im Fernsehen auf, das „Deutsche Fernsehen“ beginnt mit der täglichen Ausstrahlung der Tagesschau und der Bundestag beschließt die Einführung einer zentralen „Verkehrssünderkartei“ mit Sitz in Flensburg. Es sind Ereignisse, die in die Geschichte eingegangen sind und die bis heute nachwirken.

Dass Entscheidungen und Entwicklungen aus einem anderen Jahrhundert sich bis in die Gegenwart auswirken und sie nachhaltig verändern, zeigt auch die Geschichte des Strukturwandels in der Grafschaft Bentheim. Sie ist vor allem eine Geschichte von Menschen – Menschen, die etwas bewegt haben, die trotz Rückschlägen ihr Ziel nicht aus den Augen verloren und echten Unternehmergeist bewiesen haben. Sie ist eine Geschichte von Machern – von Menschen, die angepackt haben. Die Grafschaft hat den Wandel von der Monostruktur zum Tausendfüßler geschafft – welche Meilensteine, Akteure und Entwicklungen dabei eine besondere Rolle gespielt haben, lesen Sie auf den folgenden Seiten. Dazu blicken wir besonders auf die zwei Orte, in denen die Textilindustrie eine besonders große Rolle gespielt hat: Nordhorn und Schüttorf. Zu Wort kommen dabei auch der Historiker und Publizist Werner Straukamp, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Wirtschaftsvereinigung Dr. Wilfried Holtgrave, der ehemalige Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Wolfgang Wolf, Bernd Sundag, der in Schüttorf für die Bereiche Wirtschaftsförderung, Tourismus, Stadtsanierung und Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, sowie Silke Kamps, Geschäftsführerin der Firma ROFA aus Schüttorf.

Der Strukturwandel in Nordhorn

Die Blütezeit

1956 prägen die Textilfabriken NINO, Povel und Rawe mit ihren riesigen Industriegeländen und Spinnereihochbauten das Stadtbild in Nordhorn. Täglich machen sich fast 12.000 Menschen – das sind 80 Prozent aller industriell Beschäftigten in Nordhorn – auf den Weg in die drei Fabriken, um dort im Akkord zu spinnen, zu weben und zu veredeln. Keiner von ihnen ahnte wohl damals, dass nicht einmal 40 Jahre später alle Maschinen still stehen würden.

Arbeiten nach dem Fließbandprinzip in der Näherei von Rawe, um 1950. (Foto: Sammlung Zahn im Stadtmuseum Nordhorn)

Die Textilkrise bahnt sich an

Und doch: Bereits in den 1960er Jahren begann die textile Blüte zu welken. Viele junge Menschen verließen die Region, weil sie keine Zukunft in der Textilindustrie sahen oder ein Studium anstrebten. Außerdem wurde der Ruf nach Ausgleichsindustrien lauter, denn der Anteil der Beschäftigten in der Textilindustrie war unverhältnismäßig hoch. „Es stellte sich heraus: Allein auf Textil zu setzen, ist ein Fehler“, betont Straukamp. Das alles verschärfte sich mit der Öl- und Energiekrise 1973 und 1974: Rohstoffe verteuerten sich und der Textileinzelhandel musste herbe Einbußen beklagen. Außerdem drängten Textilien aus Asien auf den europäischen Markt und immer mehr Hersteller verlagerten ihre textile Produktion ins Ausland. „Das zeichnete sich auch in Nordhorn ab, die Arbeitsplätze in der Textilindustrie gingen zurück“, erklärt der Historiker Straukamp.

Gewerbe- und Industriepark

Anfang der 1970er Jahre versuchte die Stadt Nordhorn, zu reagieren. Die Einrichtung eines Gewerbe- und Industrieparks sollte mittelständische Betriebe nach Nordhorn locken. Gleichzeitig boten die Gewerbeflächen neuen Platz für Bestandsbetriebe. Damit verfolgte die Stadt das Ziel, einen von der Textilindustrie unabhängigen Branchenmix zu etablieren. Ein gelungenes Beispiel: Die Grafschafter Nachrichten, die ein neues Verlagsgebäude und ein Druckzentrum im Gewerbe- und Industriepark errichteten. Das erste auswärtige Unternehmen kam 1979 dazu: AOE Plastic, ein Tochterunternehmen von BP. Mittlerweile gehört das Unternehmen zur RKW-Gruppe. 2019 feierte der RKW-Standort Nordhorn das 40-jährige Bestehen.

Nach AOE Plastic zog das Unternehmen Gussek Haus in den Gewerbe- und Industriepark. Kerngeschäft von Gussek sind Fertighäuser – ein Geschäftsmodell, das bei der Gründung 1960 zunächst belächelt wurde. Doch das Unternehmen wuchs schnell und machte sich bundesweit einen Namen. Mittlerweile sind rund 500 Mitarbeiter bei Gussek Haus an den Standorten Nordhorn und Elsnigk beschäftigt.

Textilgelände Povel - ein Vorzeigeprojekt

Als wichtiger Meilenstein und Wendepunkt der Nordhorner Stadtgeschichte gilt die Sanierung des ehemaligen Povel-Geländes. Das Areal war bundesweit eines der ersten, das nach der Schließung 1978 saniert und umgenutzt werden sollte. Im Rahmen des Vorhabens nahm Nordhorn an milli­onenschweren Forschungsprojekten teil und die Sanierung der belasteten Böden wurde zum internationalen Vorzeigeprojekt. Schon früh kam die Idee auf, auf dem Gelände Platz für innenstadtnahes Wohnen zu schaffen. Diese Initiative wiederum löste einen Schub der Bauwirtschaft aus. Auf der 18 Hektar großen Gewerbe- und Industriebrache sind Wohnungen für 750 Menschen entstanden.

„Neben Wohnraum bot das Areal außerdem Platz für Kultur und Dienstleister“, erläutert Straukamp. „Das Povel-Gelände ist ein schönes Beispiel für die Stärkung des Dienstleistungssektors in Nordhorn.“ Die alte Weberei wurde zum Kulturzentrum, im Spinnereiturm befindet sich das Stadtmuseum. Auch die Ansiedlung von Apotheken, Ärzten, Psychologen, einem Seniorenstift sowie Projekten für betreutes Wohnen sorgten dafür, dass Arbeitsplätze für medizinisches und pflegerisches Personal entstanden. Zusätzlich zogen Rechtsanwälte, Steuerberater und Finanzdienstleister auf das ehemalige Povel-Gelände – und damit eine Branche, die zuvor eher unterdurchschnittlich in Nordhorn vertreten war.

Einfahrt zum Betriebsgelände von Povel, um 1929. Foto: Franz Niederniehaus in der Sammlung Zahn im Stadtmuseum Nordhorn

Sanierung der Innenstadt

In den 1980er Jahren hat sich außerdem in Nordhorns Innenstadt einiges getan: Um den Einzelhandel zu stärken und Gäste aus den Niederlanden anzulocken, wurde die Hauptstraße in eine Fußgängerzone umgewandelt. Seit 1987 ist die Innenstadt deshalb verkehrsberuhigt und es gibt große kostenfreie Parkplätze – ideal für den niederländischen Einkaufstourismus. Selbst kleinere Geschäfte sowie der Lebensmitteleinzelhandel profitieren und haben heute viele niederländische Kunden.

Ausbau des Bildungsbereichs

In den 1980er Jahren war die Nachfrage in der Bauwirtschaft, im Einzelhandel und im Bereich Finanzdienstleistungen gestiegen – vollkommen kompensieren konnte das die Arbeitsplatzverluste allerdings nicht. „Insgesamt gab es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland zu dieser Zeit. Viele junge Menschen kehrten der Grafschaft den Rücken, um in einer anderen Region zu studieren, denn vor Ort fehlten Universitäten und Fachhochschulen“, schildert der Historiker.

Um den bis dato unterrepräsentierten Bildungsbereich zu stärken, wurde in den 1970er und 1980er Jahren massiv in den Ausbau des Schulwesens investiert. Ausgebaut wurden das Realschulwesen, das städtische Gymnasium und etliche Zweige der Berufsschulen sowie die zugehörigen Fachgymnasien. Ausbildungszentren für die überbetriebliche Ausbildung kamen ebenfalls dazu. So entstanden nicht nur vor Ort neue Bildungsmöglichkeiten für junge Menschen, sondern gleichzeitig viele Arbeitsplätze in dieser Branche.

Fördermittel der EU

Anfang 1993 startete der Landkreis eine Initiative mit dem Ziel, Fördermittel von der EU zu erhalten, um der Strukturschwäche und den steigenden Arbeitslosenzahlen entgegenzuwirken. 1994 erkannte die EU Nordhorn und Schüttorf, die traditionellen Textilstandorte, als Ziel 2-Gebiet an. Damit wurden die beiden Städte als Indus­triegebiete mit rückläufiger Entwicklung ausgewiesen. Kurze Zeit später folgte für den gesamten Landkreis die Anerkennung als Zielgebiet 5b (Entwicklung des ländlichen Raumes). Innerhalb von dreieinhalb Jahren flossen aus den EU-Förderprogrammen und Gemeinschaftsinitiativen etwa 23,5 Millionen D-Mark in investive Projekte in die Grafschaft. Diese Fördermittel lösten ein Investitionsvolumen von 73,5 Millionen D-Mark aus. Darüber hinaus bewilligte die EU rund elf Millionen D-Mark für Umschulungs- und Qualifizierungsprogramme. Beispielhaft für EU-geförderte Projekte sind die Erschließung der Gewerbegebiete in Neuenhaus, Uelsen und Wietmarschen, die Umgestaltung des Rathausplatzes in Bad Bentheim, die Realisierung der „Grafschafter Fietsentour“ sowie das Skulpturenprojekt „kunstwegen“.

Verschärfung der Textilkrise

In den 1990er Jahren verschärfte sich die Textilkrise noch einmal. Durch den NINO-Konkurs im Jahr 1995 verschwanden 3.500 der insgesamt 5.000 Arbeitsplätze in der Textilbranche. Die Arbeitslosenquote lag in Nordhorn 1996 und 1997 bei 15 bis 17 Prozent – ein bitterer Rekord. Nach mehreren Krisen vor der Jahrtausendwende stellte Rawe 2001 als letzter der „großen Drei“ seine Produktion ein. Von den ehemals 12.000 Arbeitsplätzen bei Povel, Rawe und NINO war nicht einer geblieben. Trotz aller Anstrengungen in den 1980er Jahren folgte in den 1990ern eine depressive Phase, die rund drei Jahre anhielt.

Blick in einen Websaal bei Niehaus & Dütting, später NINO, um 1930.  (Foto: Sammlung Zahn im Stadtmuseum Nordhorn)

Die Auswirkungen - Einschätzung von Wolfgang Wolf

"Dass ein Textilunternehmen nach dem anderen seine Türen schloss, war der Super-GAU. Nicht nur für die dort Beschäftigten: Viele weitere Unternehmen waren mit der Textilindustrie verknüpft und für sie tätig. Dazu gehörten zum Beispiel große Bauunternehmen und Elektromaschinenbauer, die die Gebäude und Maschinen der Textilunternehmen auf Vordermann gebracht haben. Das passierte vor allem in den Betriebsferien von NINO und Co. und war eine gute Einnahmequelle für die Unternehmen – doch die verschwand von heute auf morgen.“

Der Tiefpunkt - Dr. Wilfried Holtgrave erinnert sich

„Mein persönlicher Tiefpunkt war der Moment, als Herr Stellmach – damals der NINO-Insolvenzverwalter – das endgültige Aus von NINO verkündete. Denn gerade im Vorfeld dieser Nachricht gab es viele Informationen, die versprachen, dass es doch eine Fortführungsperspektive geben sollte. Es hieß, es gebe einen Investor und Kernteile würden übernommen werden. An diese Botschaft hat sich sehr viel Hoffnung gebunden. Für alle Beteiligten war klar, dass es weitergehen würde – und das wurde auch von den Verantwortlichen kommuniziert. Deshalb hatte niemand mehr Zweifel daran. „Die Dinge sind gerichtet“, dachte man. Als dann das endgültige Aus verkündet wurde, war damit das Aus einer ganzen Industrie impliziert. Diese Industrie hat immerhin 100 Jahre lang nicht nur die Grafschaft – das klingt sehr abstrakt – sondern das Leben geprägt. Das Leben der Familien, der Menschen in der Region. Die Textilindustrie hat die Gesellschaft geprägt, wie wir heute wissen. Das Aus war deshalb ein ganz kalter Schnitt. Wenn ich mich an die Reaktion der Menschen erinnere, war das der Tiefpunkt. Da war erst einmal das große schwarze Loch. Auch die letzten Hoffnungen waren zerstoben. Das NINO-Aus war eine ganz furchtbare Nachricht – nicht nur für diejenigen, die dort beschäftigt waren, sondern für die ganze Grafschaft Bentheim.“

Struktur- und Personalwechsel

Als die Textilindustrie in der Grafschaft an Stärke verlor, gab es in vielen Institutionen – vor allem in Nordhorn – zahlreiche Wechsel in den Personalstrukturen. Für Holtgrave ist auch das ein entscheidender Punkt, der zum Erfolg des Strukturwandels beigetragen hat, wie er schildert:

„Damals gab es – das ist auch ein Stück weit Zufall – viele Struktur- und Personalwechsel, die aus meiner Sicht von entscheidender Bedeutung waren. Als ich 1984 in die Grafschaft gekommen bin, habe ich die Strukturen als sehr verkrustet erlebt. Es gab ausgeprägte Eitelkeiten zwischen Kreis und Stadt sowie zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Das war eine regelrechte Gegnerschaft. Natürlich war diese Haltung auch gespeist aus den schwierigen Jahren der Negativentwicklung in der Textilbranche. Schließlich kam das Ende dieser Industrie nicht fallbeilartig. Aus diesem Grund gab es viele angespannte Jahre mit aufreibenden Gesprächen und Verhandlungen. Das hat zu großen Verwerfungen geführt. Deshalb waren die Beteiligten in den Verwaltungen, der Politik, der Wirtschaft und den Gewerkschaften im Grunde nicht mehr in der Lage, miteinander zu arbeiten. Damals hat es dann aber Veränderungen gegeben: Es gab neues Personal im Landkreis, in der Stadt, in den Gewerkschaften, der Kreishandwerkerschaft, in den Arbeitgeberverbänden, der Wirtschaftsvereinigung und in der Presse. In diesem Zeitraum wurden zahlreiche und wichtige Positionen neu besetzt – oftmals auch mit Personen, die von außerhalb kamen. Der große Vorteil: Sie waren unvoreingenommen. Sie hatten keinen historischen Ballast und deshalb auch überhaupt keine Hemmungen, miteinander zu reden. Diese Menschen hatten keine Schwierigkeiten, miteinander zu überlegen und sie konnten gemeinsame Lösungen finden, weil sie gemeinsame Lösungen finden wollten. Alte Blockaden und Barrieren gab es für sie nicht. Das ist für mich ein elementarer Punkt. Das beste Beispiel für diese Zusammenarbeit ist die GBQ, die Grafschafter Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft, die im Zuge der NINO-Pleite entstanden ist. Landkreis, Stadt, Kreishandwerkerschaft, Wirtschaftsvereinigung und Gewerkschaften haben sie miteinander gegründet – das war vorher undenkbar. Aber die Beteiligten waren sich einig, dass sie einen breiten gesellschaftlichen Konsens für die GBQ brauchen und haben deshalb zusammengearbeitet. Die Kooperation war in den Gremien außerordentlich umstritten. Doch dann entwickelte man ein Verständnis und einen gemeinsamen Ansatz. Gewerkschaften und Arbeitgeber waren zum Beispiel keine Gegner mehr, sondern Partner. Ich glaube, diese Zusammenarbeit und die außerordentlich gute Kooperation mit der Verwaltung war sehr bedeutend. Mit den neu entstandenen Kooperationen und der unvoreingenommenen Zusammenarbeit der Beteiligten konnten die Voraussetzungen geschaffen werden, die notwendig sind, um einen langwierigen und schwierigen Prozess wie den des strukturellen Wandels erfolgreich zu meistern.“

In der Zettelei bei Rawe wurden aus tausenden Fäden die Kettbäume für die Weberei vorbereitet, um 1950. (Foto: Sammlung Zahn im Stadtmuseum Nordhorn)

Das Rawe-Gelände

„Nachdem auch NINO und Rawe ihre Produktion eingestellt hatten, stand die Stadt Nordhorn vor einem weiteren Problem“, erklärt Straukamp. „Was sollte mit den riesigen Industriegeländen passieren?“ Das ehemalige Rawe-Areal liegt in der Nähe der Innenstadt – die Hälfte der Flächen in Wohnraum umzuwandeln, bot sich daher an. Auch, weil dieser in Nordhorn schon immer knapp war: Viele Bürger entschieden sich, in der Stadt zu bleiben oder kamen später zurück. Gründe sind die geringen Grundstückspreise und die guten Strukturen für Familien. In den 1990ern wurden viele Kitas aus- und neu gebaut, vieles lässt sich per Fahrrad erreichen und Nordhorn verfügt über ein breites Freizeitangebot für Familien. „Die sehr guten weichen Standortfaktoren sowie eine zunehmende Nachfrage nach Miet- und Eigentumswohnungen für den wachsenden Anteil an Senioren- und Singlehaushalten übten Druck auf den Wohnungsmarkt aus“, erläutert der Publizist. Gute Chancen also für das neue Rawe-Viertel.

Während auf der einen Hälfte des Geländes neuer Wohnraum entstand, wurde auf der anderen ein Einkaufszentrum errichtet. Das stieß vor allem bei den örtlichen Einzelhändlern zunächst auf großen Protest. Die Sorge vor der Konkurrenz erwies sich allerdings als unbegründet: Statt den Einzelhändlern die Kunden streitig zu machen, ergänzte das Einkaufszentrum das Angebot der Innenstadt sinnvoll. Ausgestattet mit einem großen Parkplatz, lockte das neue Kaufhaus vermehrt niederländische Kunden nach Nordhorn, die auch die Innenstadt besuchten. Für die örtlichen Gastronomen erwies sich das Einkaufszentrum deshalb ebenfalls als gute Gelegenheit, Gäste zu gewinnen.

Das NINO-Gelände - Bildung und Dienstleistung

Weil das ehemalige NINO-Areal nicht innenstadtnah liegt, war schnell klar: Wohnraum dort zu schaffen, wäre nicht sinnvoll. Deshalb entschieden sich die Verantwortlichen der Stadt Nordhorn dafür, das Gelände für Bildung und Bürowirtschaft zu nutzen. Das ehemalige Rohgewebelager sowie das Ballenlager und das in den 1920er Jahren errichtete Verwaltungsgebäude wurden in den Jahren 2003 und 2004 saniert und neuen Nutzungen zugeführt. Das Rohgewebelager beherbergt heute die Volkshochschule des Landkreises Grafschaft Bentheim und einige Unterrichtsräume des in direkter Nachbarschaft neu errichteten Evangelischen Gymnasiums. Ein großes Kommunal- und Kreisarchiv des Landkreises ist ebenfalls auf dem Areal untergebracht. Als Vorzeigeobjekt gilt der NINO-Hochbau: Das 25-Millionen-Euro-Projekt schuf in den Räumlichkeiten des ehemaligen Spinnereiturms Platz für ein 1.300 Quadratmeter großes Stadtmuseum, die Wirtschaftsförderung des Landkreises, die Grafschafter Wirtschaftsvereinigung, für Rechtsanwälte, Steuerberater, die Grafschafter Volksbank sowie Krankenkassen und weitere Unternehmen. Mittlerweile sind im „Kompetenzzentrum Wirtschaft“ mehr als 40 Dienstleister und Beratungsunternehmen, Banken und Institutionen ansässig. Regelmäßig finden außerdem Veranstaltungen in den Räumlichkeiten statt

Neue Gewerbegebiete

In den 1990er und 2000er Jahren entstanden außerdem zwei neue Gewerbegebiete in Nordhorn: Das Gewerbegebiet Blanke Süd und das Gebiet Klausheide, das im Osten der Stadt liegt. Zentrales Unternehmen in Blanke Süd ist die Bentheimer Eisenbahn, die ihren Betriebshof und die Verwaltung nach Nordhorn verlegt hat.

Im Gewerbegebiet Klausheide siedelte sich in den 1990ern das Kunststoffunternehmen Reinhard Ritz an. Es folgten mehrere größere Handwerksbetriebe, außerdem gibt es auf etwa elf Hektar einen Solarpark.

So ist der Strukturwandel gelungen - Fazit von Werner Straukamp

„Neue Beschäftigungsfelder in Nordhorn beruhen auf dem Richtung Niederlande ausgerichteten Einzelhandel sowie dem Aufbau von Arbeitsplätzen in allen Sparten des Dienstleistungsbereichs. Außerdem ist es gelungen, einen Branchenmix von mittelständischen Unternehmen anzusiedeln. In vielen Fällen haben es Betriebe geschafft, sich neue Märkte abseits der Textilindu­strie zu erschließen: Zum Beispiel gibt es Maschinenbauunternehmen, die vorher spezialisiert für die Textilindustrie produziert haben und mit dem Strukturwandel nach neuen Möglichkeiten außerhalb dieser Branche gesucht haben. Ein Beispiel ist die Rawe Werkstätten GmbH, die ursprünglich aus 20 bis 30 Handwerkern bestand, die bei Rawe angestellt waren. In den 1970er Jahren hat Rawe diese Abteilung in ein eigenes Unternehmen zusammengeführt, um Fremdaufträge annehmen zu können. Heute beschäftigt die Werkstätten GmbH über 300 Mitarbeiter. Nordhorn ist außerdem die Stadt mit der höchsten Konzentration von Textilgroßhändlern. Sie betreiben zum Teil große Ketten, haben ihre Wurzeln aber meist auch in der klassischen Textilindustrie. Einige Stoffhändler haben ihre Ausbildung bei den ‚großen Drei‘ gemacht und danach begonnen, mit den Stoffen von NINO, Povel und Rawe zu handeln. Mittlerweile haben sich auch diese Unternehmen anders orientiert, kaufen im Ausland und haben neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen – zum Beispiel im Onlinehandel oder Internetmarketing – geschaffen. Darüber hinaus hat Nordhorn erheblich von Forschungs- und Fördermitteln des Landes Niedersachsen sowie des Bundes profitiert. Durch die Öffnung der Binnengrenzen wurden außerdem innovative Cluster wie die Transportwirtschaft und der Maschinenbau sowie die Kunststoffbranche weiter angekurbelt. “

Die Kehrseite der Medaille

Der Erfolg des Strukturwandels geht allerdings nicht ausschließlich auf diese Faktoren zurück. Nach dem Ende der Textilunternehmen NINO, Povel und Rawe fanden trotz der vielen neuen Beschäftigungsfelder längst nicht alle ehemaligen Mitarbeiter der Unternehmen eine neue Stelle. Besonders die älteren Beschäftigten und die Spinner und Weber fanden keine neue Arbeit. „Der Anteil der Vorruheständler war deshalb sehr hoch“, weiß Straukamp. Auch die Frauenarbeitslosigkeit war überdurchschnittlich: Denn viele der Frauen, die im Verwaltungsbereich der Fabriken tätig waren, fanden nach dem Aus der „großen Drei“ ebenfalls keine neue Anstellung. Auch die niedrige Lohn- und Einkommensstruktur ist für das Gelingen des Strukturwandels mit verantwortlich. „Im Vergleich mit anderen Branchen hat die Textilindustrie eher im unteren Mittelfeld bezahlt“, räumt der Publizist ein. Wer nicht in die Textilbranche wollte, musste die Region verlassen - ein Arbeitsplatzmonopol, dass sich die großen Textilfirmen über Jahrzehnte zunutze machten.

"Ein Mosaik aus vielen einzelnen Bausteinen"

Dass eine Region es geschafft hat, sich von den Strukturen der Textilindustrie zu lösen und trotz der Krise nicht den Kopf in den Sand zu stecken, ist nicht selbstverständlich. Auch in der Grafschaft herrschte nach dem Ende der „großen Drei“ keine euphorische Aufbruchstimmung. Selbstverständlich prägten Angst, vielleicht sogar eine gewissen Schockstarre die erste Zeit nach dem Zusammenbruch der textilen Wirtschaft. Wie die Grafschafter es trotzdem geschafft haben, den Blick wieder nach vorn zu richten, erklärt Holtgrave so:

„Ich denke, über viele unterschiedliche Impulse ist es gelungen, deutlich zu machen: Wir können und dürfen nicht jammern. Wir können nicht die Hände in den Schoß legen und darauf hoffen, dass die großen Lösungen von außerhalb kommen. Wir müssen uns auf unsere eigenen Kräfte und Stärken berufen. Bis zu dieser Erkenntnis hat es etwas gedauert, aber dann wurde in den einzelnen gesellschaftlichen Strukturen gefragt: „Was können wir tun? Was müssen wir machen?“ Im nächsten Schritt wurde sich zusammengesetzt. Da gab es eine Konferenz mit der Kreisverwaltung, in der gemeinsam überlegt wurde, welchen Beitrag man leisten kann. Daraus sind dann Dinge entstanden, die über die eigentliche Gründung einer Grafschafter Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft weit hinausgingen: Der Spirit dahinter war viel wichtiger. Ein weiterer Vorteil ist die überschaubare Größe des Landkreises. Die Kommunikation läuft rasch, man kennt sich. Netzwerke können also schnell geknüpft werden. Diese Dinge haben im Zusammenwirken dazu geführt, dass Schritt für Schritt Erfolge realisiert werden konnten. Ganz wichtig war auch die hochmotivierte Grafschafter Bevölkerung, die einmal mehr gesagt hat: „Jammern hilft nicht, wir müssen die Ärmel hochkrempeln.“ Ich glaube auch, dass die lange industrielle Prägung an der Stelle eine sehr positive Rolle gespielt hat. Die Menschen hatten klassische wirtschaftliche Tugenden. Industrielle Arbeitsstrukturen, Schichtarbeit – das war ihnen nicht fremd. Insofern waren sie für die breitesten wirtschaftlichen Entwicklungen gewappnet. Im Endeffekt ist es ein Mosaik aus vielen, vielen, vielen einzelnen Bausteinen, die dazu geführt haben, dass der Strukturwandel deutlich erkennbar nicht nur angegriffen, sondern auch umgesetzt werden konnte. Schließlich gab es dann eine sich selbst dynamisierende Entwicklung. Denn die Impulse haben sich einander wechselseitig verstärkt. Die Anfänge waren sicherlich schwierig, aber es hat sich Stück für Stück entwickelt. Das war ein mühsamer und langer Prozess, der gut und gerne drei Jahrzehnte gedauert hat. Und es hat vieler unterschiedlicher Impulse und Wirkungsmechanismen bedurft, um den Wandel gemeinsam zu schaffen. Die Grafschaft hat den Strukturwandel im Kern selbst bewältigt. Zum Teil war dieser Prozess sicherlich sehr anstrengend. Doch das Gefühl, nicht mehr mit dem Rücken an der Wand zu stehen, war gleichzeitig sehr befreiend. Den strukturellen Zusammenbruch der Textilindustrie musste man über Jahre hinweg erleiden und erdulden. Die Herausforderung, plötzlich aus eigener Kraft und mit eigenen Ideen gestalten, in die Tasten greifen und entwickeln und aufbauen zu können – das war anstrengend, aber sehr positiv besetzt. Denn Erfolge beflügeln. Am Ende des Tages hat dieser Prozess auch Spaß gemacht. Für mich gilt bis heute, dass ich über diese Jahre viele spannende und interessante Menschen kennengelernt habe. Zum Teil sind daraus Freundschaften entstanden. Die positiven Erfahrungen und Entwicklungen haben sicher auch ein positives Momentum bedeutet und Kräfte und Energie freigesetzt.“

"Der Wandel setzt sich fort"

Wolfgang Wolf ist sich sicher, dass der Strukturwandel nur ein Anfang war:

 

„Der Strukturwandel der Textilindustrie ist sehr wahrscheinlich nur ein erstes Mal für uns gewesen. Die Entwicklung war zwar neu für uns, aber: Der Wandel setzt sich in anderen Bereichen fort. Ein Beispiel ist die Baubranche: Wir hatten zu Hochzeiten über 100 Mitglieder in der Bauinnung der Grafschaft Bentheim. Heute sind es noch 37. Im Endeffekt tragen einige wenige Unternehmen das gesamte Baugeschehen in der Grafschaft, alle anderen haben sich Nischen gesucht. Das hätte ich vor 15 Jahren nicht vermutet. Ein weiteres Beispiel ist der Einzelhandel: Auch die Innenstädte verändern sich. Der stationäre Einzelhandel wird weiter an Bedeutung verlieren, wenn der Nachholbedarf in eigener Sache im Bereich Digitalisierung nicht konsequent verfolgt wird. Wir brauchen einen attraktiven Einzelhandel, damit unsere Innenstädte weiterhin interessant bleiben und somit ein gutes Stück Lebensqualität vermittelt wird. Auf diese Entwicklung müssen wir reagieren, so wie wir auf den Zusammenbruch der Textilindustrie reagieren mussten.

 

Der Strukturwandel in Schüttorf

Die Textilindustrie in Schüttorf hat eine lange Tradition. Das größte Textilunternehmen der Samtgemeinde war die Weberei G. Schlikker & Söhne. 1968 stellte der Betrieb täglich rund zwölf Tonnen Garn und rund 70.000 Meter Stoff her. Doch wie die „großen Drei” in Nordhorn überlebte auch das Schüttorfer Unternehmen die Textilkrise nicht und schloss 1990 seine Tore. Zehn Prozent der Arbeitsplätze in Schüttorf gingen damit von einem auf den anderen Tag verloren. Heute verzeichnet der Standort Rekordeinnahmen bei der Gewerbesteuer, hat kaum noch freie Gewerbeflächen und ist auch als Wohnort sehr beliebt – wie konnte das gelingen?

Insolvenz von Schlikker & Söhne - Rückblick von Bernd Sundag

„Der endgültige Untergang von Schlikker & Söhne 1990 hat die heimische Wirtschaft bis ins Mark getroffen. Die Nachricht vom Aus hat sich wie Mehltau über die Stadt gelegt. Man muss sich mal vorstellen, wie viele Menschen an dem Unternehmen hingen – nicht nur die Arbeiter selbst, sondern auch ihre Familien haben unter der Insolvenz gelitten. 500 Menschen waren auf einmal arbeitslos. Anders als in Nordhorn waren die Geschäftsführer der Textilunternehmen in Schüttorf meist auch Eigentümer. Deshalb haben sich die Arbeitnehmer immer sehr solidarisch mit ihnen gezeigt. So wurde beispielsweise nie gestreikt. Ich kenne Menschen, die bis heute unter dem Aus leiden. Die Textilindustrie war ihr Leben. Und sie konnten sich nie vorstellen, dass die Tore einmal geschlossen werden würden. Plötzlich waren Menschen mit 50 arbeitslos, ohne Aussicht auf neue Beschäftigung. Die Arbeit war Lebensinhalt, viel mehr als nur eine Tätigkeit in einer anonymen Fabrik. Einige haben es geschafft und sind nach Nordhorn gegangen, zu NINO zum Beispiel. Andere haben an anderer Stelle Arbeit gefunden. Unser Arbeitsamt war stark eingebunden und hat wunderbar vermittelt. Außerdem gab es Textilbetriebe in der Nachbarschaft, die kleiner und noch nicht von der Bildfläche verschwunden waren. Auf der Industriebrache von Schlikker & Söhne, dem damals größten Textilunternehmen in Schüttorf, entstand schließlich ein Einkaufszentrum.

Die Europastraße 8

Die alte Europastraße 8, kurz E 8, spielte in Schüttorf eine große Rolle. „Wenn man es groß aufziehen möchte, war das die Verbindung Amsterdam-Moskau“, erläutert Bernd Sundag, der für die Wirtschaftsförderung, den Tourismus, die Öffentlichkeitsarbeit und Stadtsanierung zuständig war. Aus der alten E 8 wurde die Autobahn 30. In den 1980er Jahren wurde sie bis nach Rheine geführt. „Das war unser erster Anschluss“, erklärt Sundag. Und dann kam 2004 der Lückenschluss der A 31 – und mit ihm entstand das Autobahnkreuz Schüttorf.  „Mit dem Lückenschluss waren wir an die große weite Welt angeschlossen“, schildert der Schüttorfer.

Das Schüttorfer Kreuz: ein zentraler Verkehrsknotenpunkt (Foto: Hermann Biester)

Das Schüttorfer Feld

Unmittelbar am Autobahnkreuz liegt das Schüttorfer Feld. Das ehemalige Wehrerprobungsgelände war schon immer eine stadteigene Fläche – und ist mit dem Lückenschluss enorm attraktiv geworden. „Wir haben das Schüttorfer Feld über viele Jahre zu einem Industriegebiet entwickelt. Der große Vorteil war, dass wir keine Grundstücke ankaufen mussten, denn das gesamte Gelände gehörte ja bereits der Stadt“, so Sundag. „Das ist ein unglaubliches Pfand.“

Die Namensgebung des Schüttorfer Kreuzes - Erinnerung von Bernd Sundag

„Ursprünglich war für die A 31 eine Trasse vorgesehen, die nicht durch Schüttorf, sondern über Emsbüren und Salzbergen führen sollte. Doch die Emsbürener  und Salzberger haben sich dagegen vehement gewehrt. Die Schüttorfer allerdings haben der C 3 Trasse, wie sie in der Planung hieß, zugestimmt. Und so kam es dann auch.  Als die Trasse dann fertig war und der Name für das Autobahnkreuz 30/31 erstellt wurde, da wollten die Emsländer das Kreuz jedoch ,Ems-Vechte-Kreuz’ nennen, was bei der Politik und unserem damaligen Stadtdirektor Detlef Bajog allerdings auf massiven Widerstand stieß. Bajog wusste, dass Autobahnkreuze immer nach dem Ort benannt werden, der durch das Kreuz tangiert wird. Er machte daher deutlich: „Wir können das Kreuz gerne umbenennen, aber dann stimmen wir dem Bau der weiteren Trasse nicht zu.“ Natürlich ist es am Ende so gekommen, wie es vorgesehen war: Das Autobahnkreuz heißt ‚Schüttorfer Kreuz‘. Schüttorfer Kreuz – für den Standort ein echter Gewinn: Selbst, wenn mal am Schüttorfer Kreuz 27 Kilometer Stau sind, ist das immer noch Werbung für uns. Denn dann weiß ganz Deutschland, wo unsere Stadt liegt.“

 

Kleine und mittlere Betriebe ansiedeln

Das neue Autobahnkreuz sorgte dafür, dass sich Unternehmen mit Ansiedlungsplänen verstärkt für Schüttorf interessierten. Die Verantwortlichen aus Verwaltung und Politik haben allerdings nicht jedem Interessenten blind Flächen zugesagt, sondern sich intensiv mit den Unternehmen auseinandergesetzt, wie sich Sundag erinnert: „Zunächst einmal haben wir uns die Betriebe angeschaut. Wir haben sie sehr genau unter die Lupe genommen, ausführliche Gespräche geführt und dann von Seiten der Verwaltung Vorschläge gemacht.“ Ziel war es, Betriebe mit rund 25 Mitarbeitern anzusiedeln – eher kleine Unternehmen also. „Diese Unternehmen sind überlebensfähig, meist inhabergeführt und haben ein Interesse daran, gut ausgebildetes Personal aus der Region einzustellen. Ungesundes Wachstum nach dem Motto ‚immer größer, höher, weiter‘ entsteht so in der Regel nicht“, erläutert der Schüttorfer. Aus diesem Grund  wurden die Grundstücke im Schüttorfer Feld eher klein geschnitten. Außerdem haben die Unternehmen optionierte Flächen erhalten, um Expansion möglich zu machen. „Das haben wir zur Maxime gemacht – und das hat sich auch bewährt“, verdeutlicht Sundag. Außerdem gab es für heimische Betriebe die Möglichkeit, ihren Standort aus dem Stadtgebiet ins Industriegebiet zu verlagern. Auch dieses Angebot wurde oft angenommen. Aktuell sind im gesamten Gebiet fast 3.700 Menschen beschäftigt. „Dass das Konzept greift, zeigen auch die Gewerbesteuereinnahmen: Sie lagen 2019 bei über zehn Millionen Euro, das ist ein Rekordwert. Als ich bei der Stadt anfing, lagen die noch bei 1,2 Millionen.“

ROFA-Mitarbeiter an einer sogenannten Sanfor-Krumpfanlage (Foto: ROFA)

Textilwirtschaft in der Grafschaft heute: ROFA

Das Aus der großen Textilunternehmen läutete zwar das Ende der textilen Ära in der Grafschaft ein. Doch nicht alle Betriebe fielen dem Strukturwandel zum Opfer: Einige der Grafschafter Unternehmen haben sich Nischen gesucht, in denen sie bis heute bundesweit und international erfolgreich sind. Dazu gehört zum Beispiel ROFA aus Schüttorf. Das Unternehmen wurde 1897 gegründet und produzierte und verkaufte bis in die 1960er Jahre zunächst Gewebe für Arbeitskleidung. 1969 begann das Unternehmen zusätzlich mit der Konfektion von Berufsbekleidung, zum Beispiel für die Landwirtschaft und Handwerk. „Diese Umstellung war eine schwierige Zeit“, erläutert Geschäftsführerin Silke Kamps. „Schließlich wurden unsere damaligen Kunden plötzlich zu Konkurrenten.“ Doch ROFA gelang es, Fuß zu fassen und baute die Produktion nach und nach weiter aus. In den 1970er und 1980er Jahren gab es dann die ersten DIN-Normen für Schutzbekleidung, zum Beispiel im Warn- oder Flammschutz. „Wir waren von Anfang an dabei,“ betont Kamps. „Das hat uns einen großen Vorteil verschafft.“ Denn ROFA konnte so die Produktion unmittelbar an die neuen Standards anpassen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends setzte das Schüttorfer Unternehmen schließlich gezielt auf die Produktion von PSA, also persönlicher Schutzausrüstung nach Europäischem Recht – ein bedeutender Schritt. Mittlerweile gilt ROFA als Spezialist für hochwertige Arbeits- und Schutzbekleidung für die Gas-, Öl-, Chemie-, Strom- und Stahlindustrie. Aber auch die Automobilindustrie, Flughäfen, Werften, Industrie- und Handwerksbetriebe, Straßenmeistereien und Landschaftsverbände zählen zum Kundenkreis. Knapp 170 Menschen sind aktuell bei ROFA beschäftigt. Ein Teil des Teams wurde noch bei NINO, Rawe und Co. ausgebildet und brachte wertvolles Know-how in das Unternehmen. Besonders wichtig ist für ROFA  außerdem die Beteiligung einiger Mitarbeiter in den Normenausschüssen: Dort wird festgelegt, welche Vorschriften bei der Herstellung von Schutzbekleidung beachtet und welche Sicherheitsstandards und Zertifizierungen die fertigen PSA-Bekleidungsteile später erfüllen müssen. Das eigene Team erfährt so unmittelbar von anstehenden Neuerungen und hat außerdem die Möglichkeit, bei der Gestaltung der Normen die eigenen Ansätze einzubringen. Außerdem unterhält ROFA seit 2005 ein Tochterunternehmen in Rumänien – auch dort wird nach deutschen Standards mit einem modernen Maschinenpark produziert. Rund 170 Mitarbeiter sind in der Konfektion in Arad beschäftigt. „Insgesamt haben wir es durch unsere Spezialisierung auf die Berufs- und Sicherheitskleidung geschafft, die Textilkrise zu überstehen“, erklärt Geschäftsführerin Kamps. „Wir haben über die Jahre sehr viel Know-how generieren können, haben unsere Position am Markt immer weiter gefestigt und sind heute einer der führenden Hersteller von hochwertiger Arbeits- und Schutzkleidung.“

„Der gelungene Strukturwandel in der Grafschaft beruht auf einem Münchhausen-Effekt: sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herausziehen. Das wird besonders an den Hauptakteuren in der Wirtschaft deutlich. Das Zusammenspiel von Kommunalpolitik, Verwaltung, Landes- und Bundesförderung, starken Unternehmerpersönlichkeiten vor Ort sowie dem Know-how der Beschäftigten hat dafür gesorgt, dass die Grafschaft den Strukturwandel gemeistert hat.“ Das betont der Nordhorner Historiker und Publizist Werner Straukamp.

Artikel teilen