Landkreis Osnabrück

„Jammern wir weiter oder machen wir Erfolge daraus?“

Osnabrück - Als Leiter des Instituts für Produktion und Logistik Logis.Net an der Hochschule Osnabrück hat Professor Dr. Marcus Seifert in den vergangenen drei Jahren mehr als 100 Produktionsunternehmen bei verschiedenen Digitalisierungsprojekten beraten. Im Interview spricht der Experte über große Nachholbedarfe, erhebliche Chancen und gute Strategien.

Digitalisierung in der Produktion (Foto: AdobeStock/ ipopha)

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Wie digital sind die Produktionsbetriebe in unserer Region, Herr Professor Dr. Seifert?

Stellt sich zunächst die Frage, wie wir „digital“ definieren. Es gibt leider immer noch viele Unternehmen, die sich als digital bezeichnen, nur weil sie Produktionsprozesse mit Excel-Charts steuern. Echte Digitalisierung ist aber natürlich mehr. Immerhin verfügen die meisten Produktionsunternehmen heute schon über ERP-Lösungen. Das Problem ist allerdings, dass nur in sehr seltenen Fällen der Auftragsabwicklungsprozess durchgängig abgebildet ist. Oft gibt es Insellösungen für alle möglichen Teilbereiche der Produktion, aber eben keinen Komplettüberblick.

Woran machen Sie das fest?

Ich frage in den Unternehmen zu Beginn meiner Beratung immer ein paar Dinge ab: „Wie hoch ist die durchschnittliche Reaktionszeit bei Kundenanfragen – von Anfrage bis Angebot?“, „Wie hat sich diese Reaktionszeit in den vergangenen fünf Jahren entwickelt?“, „Wie ist die Quote von Angebot zu Auftrag und wie hat die sich in den vergangenen fünf Jahren entwickelt?“, „Wie werden Arbeitszeiten auf die bestimmten Aufträge gebucht?“, „Wie genau sind die Kalkulationen – also wie weit unterscheidet sich die ursprüngliche Kalkulation von den Aufwendungen, die tatsächlich für einen Auftrag geleistet wurden?“.

Und welche Antworten bekommen Sie?

Auf Knopfdruck in der Regel keine! Weil diese Fragen den gesamten Prozess betreffen und nicht nur die Teilbereiche, die über die besagten Insellösungen mit Excel- und Co. digital erfasst sind.

Tun sich große Unternehmen leichter damit, ihre Prozesse zu digitalisieren, als kleine?

Ja, große Unternehmen haben diese Dinge oft besser im Griff. Der klassische Mittelstand hat da vielfach einen Nachholbedarf. Viele dieser Unternehmen können nicht einmal sagen, wieviel Gewinn sie mit einem Auftrag genau gemacht haben. Sie wissen lediglich: Das Betriebsergebnis war gut. An welchen Aufträgen und in welchen Geschäftsbereichen sie wieviel verdient haben oder wo sie womöglich draufgelegt haben, wissen sie nicht im Detail. Hier gibt es oft nur Bauchgefühle.

Wo setzen Sie mit Ihren Beratungen an?

Als ich die Aufgabe übernommen habe, hatte ich gehofft, dass ich etwas höher ansetzen könnte. Tatsächlich geht es aber ganz oft um die Basics: Wir analysieren die Ist-Abläufe, um zu schauen, wie der Betrieb arbeitet: Wo gibt es Verschwendungen? Wo gibt es Informationsdefizite und die daraus resultierenden Planungs- und Steuerungsdefizite durch fehlende Daten? Auf dieser Basis entwickeln wir dann ganzheitliche Soll-Prozesse. Auch wenn wir dabei einen bestimmten Schwerpunkt setzen, schauen wir uns immer die komplette Kette von der Kundenanfrage bis zum abgerechneten Auftrag an, um die vorhin beschriebene Durchgängigkeit herzustellen. Auf dieser Basis formulieren wir dann einen Anforderungskatalog, in dem definiert ist, wie eine optimale IT-Umgebung für das jeweilige Unternehmen aussehen müsste. Auf dieser Basis kann man schließlich eine Strategie entwickeln und Schritte definieren, mit denen diese Strategie der Reihe nach umgesetzt wird. Digitalisierung braucht Strategien und nicht aktionistische Einzelprojekte. Deshalb rede ich im ersten Schritt auch nie über Lösungen, sondern über Problemstellungen und Potenziale. Erst dann schauen wir gemeinsam, wie eine individuelle Strategie aussehen könnte und mit welchen Mitteln und in welchem Tempo die Unternehmen das angehen können, sodass sie dabei nicht überfordert werden. Wir schauen daher im Zuge der Projekte vollkommen anbieterneutral, welche Möglichkeiten der Markt für die jeweiligen Anforderungen der Unternehmen bietet, welche Systeme es schon gibt und welche Angebote am besten passten.

Wie gut passen denn die vorhandenen Lösungen im Markt zu den Anforderungen der Unternehmen?

Natürlich sagt mir jedes Unternehmen, dass es individuell und einzigartig ist, sodass keine dieser Lösungen passen kann. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, zu schauen, wo es Anforderungen und grundsätzliche Fragestellungen gibt, für die es bereits gute Lösungen gibt. Natürlich müssen Technik und Software auf die individuellen Anforderungen angepasst werden, aber aus meiner Sicht gibt es kaum einen Betrieb, der nicht zumindest in Teilbereichen Anforderungen hat, für die es sehr gute bestehende Lösungen gibt. Ich kann den Unternehmen hier nur raten zu schauen, was geht, und nicht gleich zu behaupten, was nicht geht.

Wie lange laufen die Projekte, die Sie begleiten, im Schnitt?

Zusammen mit dem Umsetzungsprozess laufen solche Projekte in der Regel etwa ein Jahr. Es gibt dabei immer zwei Aspekte, die besonders viel Zeit in Anspruch nehmen. Zum einen dauert es relativ lange, bis man konkrete Angebote von den Technikherstellern bekommt, und zum anderen brauchen die Unternehmen dann immer auch ein wenig Zeit, um die Investition auf den Weg zu bringen. Immerhin reden wir über hohe fünfstellige und zum Teil sogar sechsstellige Summen. Diese Entscheidungen trifft man nicht aus der hohlen Hand.

Lässt sich der Nutzen, der dem gegenübersteht, beziffern?

Nicht so ohne Weiteres. Wenn Sie nur die konkreten Einsparpotenziale – zum Beispiel, weil sich Prozesse verschlanken – gegenüberstellen, dann rechnet sich ein solches Projekt in vielen Jahren nicht. Andere Punkte sind aber für ein Unternehmen, das auch künftig erfolgreich bleiben will, viel wichtiger: Wie schnell bin ich angebotsfähig? Wie konkret kann ich den Kunden über den Auftragsstatus informieren? Wie frühzeitig kann ich ihn über Verzögerungen informieren? Wie gut bin ich darin, Lieferanten zu vergleichen? All diese Dinge können Sie nicht in Umsätzen beschreiben, aber sie sind dennoch entscheidend, wenn es darum geht, ob ein Unternehmen überlebensfähig ist.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie mit Ihrer Beratung eigentlich höher ansetzen wollten. Darauf würde ich gern zurückkommen. Wo würden Sie ansetzen, wenn die Voraussetzungen anders wären?

Ich würde natürlich viel lieber darüber sprechen, wie zukünftige Geschäftsmodelle für Unternehmen aussehen können, wenn es gelingt, Informationen, die man über sich selbst und seine Kunden hat, effektiv nutzbar zu machen. Aber an diesen Punkt kommen wir zurzeit fast nie.

Nehmen wir mal an, Sie kommen an diesen Punkt. Wie gehen Sie dann vor?

Am Ende geht es um die Frage, wie ich die Daten, die ich generiere, aktiv nutzen kann, um mein Angebot zu verbessern. Unternehmen müssen sich dafür genau mit dem Marktumfeld und mit den eigenen Möglichkeiten auseinandersetzen. Wie verändern sich Kunden, wie verändert sich der Wettbewerb und wie kann ich in diesem Umfeld Kundennutzen stiften? Die technische Umsetzung ist dabei zweitranig, für diese Probleme gibt es Dienstleister. Ich verdeutliche das mal am Beispiel aus dem Maschinenbau: Viele der Betriebe, mit denen wir es hier zu tun haben, bauen Anlagen, die sie dann verkaufen. Das muss aber nicht so laufen: Es gibt eine wachsende Zahl von Konzernen, die nicht mehr Produktionsmaschinen, sondern nur noch Produktionsergebnisse einkaufen wollen. Denn was soll ein großer Automobilhersteller mit einer ganzen Montagestraße, wenn er eigentlich nur Getriebe benötigt? Hersteller, die diesen Weg mitgehen wollen, müssen sich natürlich effizient aufstellen und das können sie nur, wenn sie möglichst viel über die eigene Anlage, die erforderlichen Aufwände, das Produktionsergebnis und natürlich auch über ihre Kunden wissen. Die Frage ist jetzt, sind unsere Unternehmen in der Lage, Informationen zu vernetzen, Querverbindungen zu ziehen und sind sie pfiffig genug, die richtigen Schlüsse und Handlungsanforderungen daraus abzuleiten, um letztendlich neuen Kundennutzen zu generieren? Da wird der eine oder andere ein böses Erwachen erleben. Wie schnell sich solche Dinge verändern können, hat die Pandemie gezeigt. Das Modell „Karstadt“ wird nicht wiederkommen, weil auch die Letzten, die noch im Laden eingekauft haben, in den vergangenen Monaten gelernt haben, dass es online viele Dinge billiger, einfacher und schneller gibt. Und einen ähnlichen Prozess wird auch die Industrie durchlaufen. Leider gibt es Unternehmen, die das immer noch nicht verstanden haben. Die Frage ist doch, welchen Nutzen ich meinem Kunden bieten kann, warum er in mein Geschäft kommen und dabei eventuell noch mehr bezahlen soll als im Internet. Wer darauf keine Antwort hat, wird es in Zukunft schwer haben.

Woran machen Sie das fest?

Bei den Impulsberatungen, die ich mache, gibt es Betriebe, die Termine verschoben haben, weil sie ein solches Gespräch nicht online machen wollen, sondern in Präsenz. Da stelle ich mir die Frage, warum ich mich mit einem Betrieb über Digitalisierung unterhalten soll, der nicht einmal eine Video-Konferenz machen will? Wenn nicht gerade Raketentechnologie produziert wird, weiß ich, wie Produktionsunternehmen aussehen und ticken. Da muss ich den ersten Aufschlag nicht in einem Präsenzgespräch machen. Natürlich treffe auch ich mich lieber bei einer schönen Tasse Kaffee, aber gerade in diesen Zeiten sollte man die hilfreichen anderen Wege, die es aufgrund der Digitalisierung gibt, auch nutzen. Wer dann aber sagt, da warte ich lieber mal Corona ab, der hat aus meiner Sicht die falsche Einstellung zum Thema. Corona hat die Defizite klar offengelegt und die Frage ist: Lernen wir daraus oder verharren wir weiter im Status quo? Wir haben jahrelang über Digitalisierung gesprochen. Jetzt ist es an der Zeit, die Ärmel hochzukrempeln, umzusetzen und neue Ideen zu entwickeln. Ich glaube aber auch, dass das Bewusstsein dafür bei vielen vorhanden ist – zum Teil fehlt es jedoch an konkreten Strategien. Ein kleiner Beleg dafür ist die Tatsache, dass sich die Nachfrage bei uns durch Corona nicht eingetrübt hat – im Gegenteil. Wir haben mit vielen Unternehmen zu tun, die diese Zeit nutzen, um sich besser und digitaler aufzustellen. Und wir haben es mit immer mehr Unternehmen zu tun, die aufgrund der Pandemie und der Angebote, die sie in dieser Situation neu aufgelegt haben, einen erhöhten Bedarf an Digitalisierung haben. Auch das stimmt mich positiv.

Wie gut ist das Hilfsangebot, das Unternehmen, die ihre Produktionsprozesse digital optimieren wollen, bekommen können aus Ihrer Sicht?

Es gibt sehr, sehr viele Menschen, die als Berater über Digitalisierung sprechen. Allerdings sind viele von ihnen Anbieter. Die wollen natürlich Geschäfte machen. Eine wirklich uneigennützige Beratung kann man da nicht unbedingt erwarten. Man muss also sehr genau schauen, mit welcher Motivation ein Ansprechpartner berät. Darüber hinaus gibt es aber auch objektive Anlaufstellen – zum Beispiel Wirtschaftsförderungen wie bei uns im Osnabrücker Land die WIGOS, die mit großem Engagement Hilfsangebote wie unsere Impulsberatung gestartet haben, die Unternehmen vernetzen, die Förderprogramme auflegen und entsprechende Anfragen schnell bearbeiten. Auch auf Landes- und Bundesebene gibt es diverse Fördertöpfe, die zumindest für die ersten Schritte gut geeignet sind.

Wie digital sind Sie persönlich?

Ich bin großer Fan von Digitalisierung. Ich bin sehr neugierig und probiere alles aus – auch Dinge, die sich im Nachgang als unsinnig erweisen. Ich finde es ganz wichtig, dass man die Dinge, über die man spricht, nicht nur vom Lesen, sondern aus dem eigenen Erleben heraus kennt. Mein ganzes Haus ist digital. Ich kann alle möglichen Dinge vom Licht über die Rollläden oder die Haustür bis zur Heizung von unterwegs aus mit dem Handy steuern. Der Rasenmäher steuert sich selbst und stimmt sich dabei mit der Bewässerungsanlage ab – bei mir ist alles digital. Tatsächlich programmiere ich sogar ein wenig und ich merke, dass mir das in meiner Funktion bei Gesprächen mit Anbietern sehr hilft, weil ich einschätzen kann, wie groß der Programmieraufwand für gewisse Lösungen ist. Ich merke aber auch, wenn die Dinge digital gerade mal nicht laufen. Wir hatten unlängst an der Hochschule einen Serverabsturz, sodass sich mein Kalender eine Woche lang nicht aktualisiert hat. Das hat mir noch einmal vor Augen geführt, was man für einen Aufwand in der analogen Welt betreiben muss: Ich musste mich für jeden Eintrag eng mit dem Sekretariat abstimmen, um Termine zu finden und um sicher zu stellen, dass keine Termine doppelt vergeben werden. Das alles kostet viel Zeit, die mir an anderer Stelle fehlt.

Können Sie das Misstrauen, das einige Menschen gegenüber der Digitalisierung haben, verstehen?

Nein!

Was halten Sie entgegen?

Lassen Sie es mich mit einem weiteren Beispiel sagen: Amazon hat vor einigen Jahren in den USA einen stationären Handel aufgemacht. Man wird dort mit Betreten des Ladens über sein Handy und das Amazon-Konto eingeloggt, packt dann die Dinge, die man haben möchte, in die Tüte, die Kamera filmt das und am Ende rechnet Amazon alle Dinge, die der Kunden mit hinausnimmt, ab. Die für mich frappierende Reaktion der Kritiker: „Das geht doch nicht, da wird man doch gefilmt und alles, was man tut, beobachtet“. Aber gehen Sie doch mal zu Karstadt. Dort hängen auch Kameras, nur dass die wirklich nur dafür da sind, die Kunden zu überwachen. Beide Unternehmen filmen genau dasselbe, nur Amazon macht das, um den Kunden ein besseres Einkaufserlebnis zu ermöglichen und das Personal hat Zeit für Dienst am Kunden. In der Summe sollten wir uns doch nichts vormachen: Wir hinterlassen heute überall unsere Spuren. Jede Bank und jeder Kreditkartenbetreiber weiß heute ohnehin schon alles über unser Einkaufsverhalten. Einige Unternehmen verkaufen diese Informationen sogar. Wir sind gläserne Kunden und auch ich finde es zum Teil bedenklich, was Amazon mit unseren Daten so macht. Klar ist aber auch: Wir werden das Internet nicht abschalten können. Die Frage ist: Jammern wir in Deutschland weiterhin oder machen wir Erfolge daraus. Andere zeigen schon heute, wie das geht, und ich denke nicht, dass wir Ländern wie China kampflos das Feld überlassen sollten. Ich sehe unseren Job vielmehr darin, der Welt zu zeigen, dass man auch mit unserem Modell – also unserer Lebensweise, unserem Verständnis von Demokratie, Persönlichkeitsrechten und Datenschutz – sehr erfolgreich digitale Geschäftsmodelle entwickeln kann. Das kann man aber nur, wenn man mit einer positiven Einstellung an die Sache herangeht. 

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