Interview | Prof. Nora Verfürth: „Kein Raum für Prosa“

Unternehmen, die das Thema Nachhaltigkeit nicht nur als lästige Pflicht, sondern als treibende Kraft für Innovationen und langfristige Erfolge sehen, sind für die Herausforderungen der Zukunft gut aufgestellt. Davon ist Professor Dr. Nora Verfürth überzeugt. An der FH Münster lehrt sie internationales Nachhaltigkeitsmanagement und sie war vor ihrer wissenschaftlichen Karriere unter anderem Director Corporate Responsibility/Quality Assurance International bei Aldi Nord. Im Interview erklärt Verfürth, wie sich Unternehmen der Nachhaltigkeit in der Praxis nähern können und warum das keine Budgetfrage sein muss.

Professor Dr. Nora Verfürth, FH Münster

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Frau Verfürth, wie können sich Unternehmen dem Thema Nachhaltigkeit nähern? 
Ich bin ein großer Fan des traditionellen Vorschlagswesens. Also: eine Box im Flur des Unternehmens aufhängen, in die jeder anonym Ideen für mehr Nachhaltigkeit werfen kann. Das geht natürlich auch digital. Was so simpel klingt, hat für mich einen ganz wichtigen Ansatz: Unternehmen sollten das Wissen ihrer Mitarbeitenden stärker nutzen! Viele engagieren sich schon im Privatleben für Nachhaltigkeit und das lässt sich doch gut aufs Unternehmen übertragen. Sei es die Frage nach einem anderen, umweltschonenderen Material, nach alternativen Prozessabläufen oder vieles mehr. Diese partizipative Herangehensweise sorgt dafür, dass ein breites, von allen Mitarbeitenden getragenes Verständnis für Nachhaltigkeit entsteht und zwanglos Ideen gesammelt und geprüft werden können. Die Entwicklung einer eigenen Nachhaltigkeits-DNA für das Unternehmen wird somit zu einem kollektiven, intrinsisch motivierten Prozess. Wenn Nachhaltigkeitsinitiativen von unten nach oben – also bottom-up – entwickelt werden, entsteht eine robuste Strategie, die nicht nur authentisch ist, sondern auch eine breite Unterstützung innerhalb der Belegschaft findet.

Welche Instrumente könnten dabei helfen?
Es gibt zahlreiche Werkzeuge und digitale Lösungen – viele davon sind sogar kostenlos verfügbar –, die beim Aufbau eines Nachhaltigkeitsmanagements helfen können. Dazu zählt zum Beispiel Software, die den ökologischen Fußabdruck für ein Produkt von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung oder für das gesamte Unternehmen errechnet. Dadurch können Unternehmen den ersten Schritt machen und beispielsweise herausfinden, wo welche Emissionen in ihrem Geschäftsmodell anfallen. Ein weiteres Instrument ist die Hotspot-Analyse. Die zeigt beispielsweise auf, an welchen Stellen das meiste Wasser verbraucht wird. So kann man die größten Probleme sichtbar machen. Früher waren diese Analysen noch wahnsinnig aufwendig, weil man selbst Daten einpflegen musste – mittlerweile sind solche Tools an Datenbanken gekoppelt, sodass sie selbstständig errechnen können, wie viel Wasser beispielsweise bei der Herstellung eines T-Shirts benötigt wird.

Nachhaltigkeit ist heute also keine Budgetfrage mehr?
Eindeutig nein! Unternehmerinnen und Unternehmer sollten das Thema systemisch denken und sich darüber im Klaren sein, dass sich durch Investitionen in die Nachhaltigkeit wiederum Kosteneinsparungen ergeben, etwa beim Energieverbrauch oder beim Abfallvolumen. Zudem lassen sich schon mit geringem Aufwand Mitarbeiterschulungen zur Sensibilisierung für mehr Nachhaltigkeit oder Software, die die Geschäftsprozesse nachhaltiger steuert, finanzieren. Es spricht auch nichts dagegen, sich mit anderen Unternehmen Aufgaben zu teilen, etwa bei der Lieferkettenkontrolle. Auch Nicht-Regierungsorganisationen können dabei helfen.

Was sind die häufigsten Fehler, die Unternehmen machen, wenn sie sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen? 
Oft scheitern Unternehmen an der traditionellen Denke, dass eine nachhaltige Optimierung der Geschäftsprozesse kurzfristig für einen größeren Profit sorgen muss. Einige Dinge brauchen aber mitunter Zeit, bis sie sich bezahlbar machen. Ein anderes Problem, das ich selbst als Nachhaltigkeitsmanagerin oft erlebt habe, ist, dass die Entscheidungsstrukturen fehlen. Es sollte eine feste Projektgruppe aus Mitarbeitenden und Führungskräften – ein Advisory Board – geben, das sich regelmäßig trifft, über Nachhaltigkeitsmaßnahmen für das Unternehmen berät und vor allem entscheiden darf. Nur so kommt man wirklich ins Machen. Es nützt nichts, wenn diese Abteilung tolle Ideen ausarbeitet, die Geschäftsführung aber letztendlich etwas ganz anderes entscheidet. Transparenz und Ehrlichkeit gegenüber den Dingen, die man umsetzen möchte und die dann auch tatsächlich realisiert werden, ist für ein funktionierendes Nachhaltigkeitsmanagement entscheidend. Insofern empfiehlt es sich, alle Entscheidungen und Maßnahmen im Bereich Nachhaltigkeit zu dokumentieren und zu überprüfen. Deshalb gehört auch das Team aus dem Controlling mit an den Tisch. Auch die jüngere Generation – egal ob Praktikanten, Hochschulabsolventen oder Berufseinsteiger – hat ein gutes Gespür für nachhaltige Ideen. Ihre Meinung einzuholen, kann sehr erfrischend sein. 

Und welche Rolle spielen Führungskräfte? 
Eine ganze wichtige! Sie müssen ethische Vorbilder sein, um traditionelle, profitgetriebene Denkweisen zu durchbrechen. Wenn sie selbst Nachhaltigkeit nicht vorleben, warum sollten es dann die Mitarbeitenden machen? In der heutigen Zeit, in der es aufgrund der Globalisierung leider so leicht ist, Ware unter unmoralischen Bedingungen kostengünstig in ärmeren Ländern produzieren zu lassen, ist das unternehmerische Selbstbild eines „ehrenhaften Kaufmanns“ wichtiger denn je. Letztendlich geht es darum, eine Unternehmenskultur zu schaffen, die moralisches Handeln und Nachhaltigkeit nicht nur als Pflicht, sondern als integralen Bestandteil des Unternehmenserfolgs betrachtet.

Inwiefern ist nachhaltiges Wirtschaften für Unternehmen, die ihre Rohstoffe über diverse Lieferketten beziehen, überhaupt nachvollziehbar und transparent möglich? 
Zum einen helfen die angesprochenen digitalen Tools dabei, die Nachhaltigkeit von Geschäfts- und Lieferprozessen nachzuvollziehen und unentdeckte Potenziale zu wecken. Zum anderen nimmt das neue Lieferkettensorgfaltspflich­tengesetz Unternehmen ohnehin in die Pflicht, bestimmte Informationen zur Verfügung zu stellen. Ein Risikomanagementsystem soll im Zuge dessen dazu beitragen, die menschenrechtlichen und umweltbezogenen Risiken in den Lieferketten zu kontrollieren. Ich glaube, dass diese Regularien sogar zu einem partnerschaftlichen Miteinander entlang der Lieferkette führen können: Alle sitzen durch die Pflicht zu mehr Transparenz im selben Boot, sodass sich an verschiedenen Stellen Synergieeffekte ergeben. Transparenz führt häufig auch dazu, neue Ideen zu entwickeln und – auf die Lieferketten bezogen – neue Partner zu entdecken, zu denen kürzere Wege bestehen oder die alternative, umweltfreundlichere Rohstoffe verarbeiten, und somit die CO2-Emissionen in der Lieferkette verringert werden können. 


"Aus dem Ansatz der Kreislaufwirtschaft ergibt sich noch eine Menge Potenzial"  (Prof. Nora Verfürth)


 

Wie verbindlich sind in diesem Kontext Nachhaltigkeitsberichte? 
Die CSR-Regularien sorgen dafür, dass bestimmte Informationen fester Bestandteil eines Nachhaltigkeitsberichts der Unternehmen sein müssen. Insofern gibt es da gar nicht so viel Spielraum für Unternehmen, Kennzahlen außen vor zu lassen oder gar zu beschönigen. Wenn Themen ausgeschlossen werden, muss das im Bericht begründet werden. Insofern wird die Qualität der Nachhaltigkeitsberichte aus meiner Sicht zunehmen. Hinzukommt, dass das Thema Nachhaltigkeit bei vielen Unternehmen schon integrierter Bestandteil des jährlichen Geschäftsberichts, der von Wirtschaftsprüfern kontrolliert wird, ist. Dadurch stehen auch die Kennzahlen zum nachhaltigen Wirtschaften des Unternehmens auf dem Prüfstand.

Das heißt, für Greenwashing gibt es gar nicht mehr so viele Einfallstore?
Richtig. Greenwashing ist durch die Kontrollmechanismen und die geforderte Transparenz in den Nachhaltigkeitsberichten der Unternehmen zukünftig eigentlich ausgeschlossen. Raum für Prosa gibt es nicht mehr.

Welche Entwicklungen im Bereich Nachhaltigkeitsmanage­ment erwarten Sie in den nächsten Jahren?
Ich glaube, dass sich aus dem Ansatz der Kreislaufwirtschaft, wirklich alle Prozesse eines Produkts von der Produktion bis zur Entsorgung in den Blick zu nehmen, noch eine Menge Potenzial ergibt. Dadurch kann die Ressourceneffizienz gesteigert und Abfall minimiert werden. Auch die Umstellung auf erneuerbare Energien ist eine der wichtigsten Stellschrauben, an denen Unternehmen drehen können, wenn sie sich langfristig nachhaltiger aufstellen möchten. Dadurch können sie nicht nur ihren CO2-Fußabdruck minimieren, sondern auch unabhängig von fossilen Brennstoffen werden – wie wichtig das ist, haben wir in den vergangenen Jahren zu spüren bekommen. Auch den Ansatz einer Sharing Economy finde ich spannend: Wissen und Tools zu teilen, macht aus Sicht der Nachhaltigkeit enorm viel Sinn, nicht nur bei der Mobilität. Und: Die Welt des Überflusses, so wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, wird es angesichts der Klimakrise und aus Umweltschutzgründen nicht mehr geben können. Wir müssen unseren Konsumstil ändern und das beginnt schon bei der Produktionsweise. Diese Entwicklungen werden dazu beitragen, dass Nachhaltigkeitsmanagement in Unternehmen nicht nur zur Pflicht, sondern zur treibenden Kraft für Innovation und langfristigen Erfolg wird. Unternehmen, die sich proaktiv diesen Veränderungen anpassen und nachhaltige Prinzipien in ihre Geschäftsmodelle integrieren, dürften gut positioniert sein, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen.

Das Interview führte Anja Wittenberg

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