Münster

Stechuhr-Urteil: „Vertrauensarbeitszeit wird für viel Gesprächsbedarf sorgen“

Münster - In einem Grundsatzurteil hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) aktuell klargestellt, dass Unternehmen die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeitenden systematisch erfassen müssen. Über die Auswirkungen des Urteils spricht Frederik Neuhaus, Geschäftsführer des Start-ups clockin aus Münster, das sich auf die digitale Zeiterfassung per App spezialisiert hat, im Wirtschaft aktuell-Exklusivinterview.

Frederik Neuhaus, Geschäftsführer clockin

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Herr Neuhaus, nach einer aktuellen Entscheidung des BAG müssen sich nun alle Unternehmen in Deutschland damit beschäftigen, Lösungen für ihre Zeiterfassung auf den Weg zu bringen. Stehen die Telefone bei Ihnen seither überhaupt noch still?
(schmunzelt) Nein. Wir merken seit einer Woche, dass die Nachfrage deutlich angestiegen ist und kommen teilweise gar nicht mehr hinterher, alle Anrufe abzuarbeiten. Wir geben aber unser Bestes. Die meisten Kunden haben dafür großes Verständnis und freuen sich über den persönlichen Kontakt zu uns.

Wie stellen Sie sich auf die wachsende Nachfrage ein?
Nach der ersten Entscheidung des EuGH in der Sache vor drei Jahren haben wir mit diesem Urteil gerechnet und uns entsprechend darauf vorbereitet. Insofern können wir die große Nachfrage aktuell gut handeln. Trotzdem bauen wir das Team gerade weiter aus und werden das – der aktuellen Situation geschuldet – etwas schneller tun, als es ohnehin geplant war.

Mit welchen Fragen kommen die Unternehmen auf Sie zu?
Im Wesentlichen dreht es sich immer um die Kernfrage: Wie kann ich möglichst einfach und schnell eine Zeiterfassung in meinem Unternehmen einführen? Konkreter geht es dann meistens darum, wie man die Dinge stationär, im Außendienst oder im Home-Office in einem System erfassen und den bürokratischen Aufwand auf ein Minimum reduzieren kann. Aktuell stellt sich natürlich immer auch die Frage, wie lange eine solche Umstellung dauert.

Was antworten Sie?
Mit digitalen Lösungen können Unternehmen in wenigen Minuten so an den Start gehen, dass alle zentralen Voraussetzungen des Urteils erfüllt werden. Wer etwas mehr herausholen will, und zum Beispiel auch Projektzeiten und Abwesenheiten erfassen oder Arbeitsergebnisse digital dokumentieren möchte, muss sich natürlich auf einen größeren Aufwand einstellen.

Wie sind die Unternehmen aus Ihrer Sicht auf die Anforderungen des BAG-Urteils eingestellt?
Zettelwirtschaft und veraltete Systeme beherrschen nach wie vor in vielen Unternehmen die Zeiterfassung. Das führt zu sehr hohem Verwaltungs- und Auswertungsaufwand. Vor diesem Hintergrund ist es für die betroffenen Unternehmen auch unabhängig von dem Urteil sinnvoll, sich mit dem Thema zu beschäftigen, weil es beträchtliche Einsparpotenziale bietet.  

Noch ist die BAG-Entscheidung ja nicht in Gesetzesform überführt worden, haben Sie dennoch eine Vermutung, was konkret auf die Unternehmen zukommen könnte?
Wir beschäftigen uns ja schon lange mit dem Thema. Arbeitszeiten müssen in jedem Fall zukünftig transparent erfasst werden. Das gilt unabhängig vom Arbeitszeitmodell, egal wann und wo gearbeitet wird. Insbesondere die beliebte Vertrauensarbeitszeit wird daher nun für viel Gesprächsbedarf sorgen. Hier geht es um die Frage, was zählt überhaupt alles zu Arbeitszeit? Ist eine Video-Fortbildung, die ich mir am Abend auf dem Sofa angucke, Arbeitszeit oder nicht? Ist der Plausch unter Kollegen in der Kaffee-Ecke Arbeitszeit oder nicht? Und wie werden diese Zeiten dann überhaupt erfasst? An diesen etwas zugespitzten Fragen zeigt sich gut, mit welchen Dingen sich Gesetzgeber und Unternehmen noch beschäftigen müssen. Ein weiterer zentraler Punkt wird die Regelung von Überstunden und Arbeitszeitkonten sein. Es ist wahrscheinlich, dass in dem zu erwartenden Gesetz Transparenz eine zentrale Rolle spielen wird, sodass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter künftig die Möglichkeit bekommen müssen, ihre geleisteten Arbeitszeiten jederzeit einzusehen.

Bei clockin sprechen Sie gern von „Zeiterfassung 2.0“. Was verstehen Sie darunter?
Viele verbinden herkömmliche Zeiterfassung mit hohem bürokratischen Aufwand, Mitarbeiterkontrolle und einem lästigen Übel. Zeiterfassung 2.0 ist genau das Gegenteil. Per App funktioniert Zeiterfassung auf jedem Smartphone mit einem Klick. Alle Beteiligten haben jederzeit einen transparenten Überblick und mit einem weiteren Klick sind alle weiteren Verwaltungsprozesse automatisiert erledigt. Zusätzlich bietet so ein System die Möglichkeit, weitere Prozesse, die bisher manuell und auf Zetteln zwischen Unternehmen und Mitarbeitern stattfinden, digital abzubilden und deutlich effizienter zu gestalten. Die Pflicht zur Zeiterfassung kann also auch ein Türöffner für die dringend notwendige Digitalisierung der mittelständischen Wirtschaft sein.

Warum ist Transparenz bei der Zeiterfassung aus Ihrer Sicht überhaupt wichtig?
Der Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. In vielen Branchen herrscht Fachkräftemangel. Mitarbeitenden ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr wichtig. Daher ist es für Unternehmen ein handfester Wettbewerbsvorteil, wenn sie mit transparenten und guten Arbeitszeitregelungen werben zu können. Insbesondere jungen Talenten kann man heute nicht mehr erklären, warum solche Prozesse umständlich auf Zetteln stattfinden müssen. Abgesehen davon ist es für Unternehmen auch wichtig, transparent einsehen zu können, wieviele Stunden in welchen Projekten anfallen, um eine saubere Kalkulation und Preisgestaltung durchführen zu können.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das Kosten-Nutzen-Verhältnis zwischen den Vorteilen moderner Zeiterfassung und dem monetären Aufwand, den Unternehmen dafür betreiben müssen?
Der Nutzen ist um ein Vielfaches höher und rechnet sich schon alleine dadurch, dass der Verwaltungsaufwand für herkömmliche Zeiterfassungssysteme deutlich mehr Kosten verschlingt.

Hand aufs Herz: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Entscheidung des BAG gehört haben?
(lacht) Ich habe daran gedacht, dass ich jetzt gar nicht mehr nach Hause komme. Nee, Spaß beiseite. Wir haben uns gefreut, weil sie die Digitalisierung in kleinen und mittleren Unternehmen beschleunigen wird und eine Vielzahl neuer Möglichkeiten entstehen werden.

Interview: Michael Terhörst

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