Münster

„Es geht darum, Möglichkeiten zu erkennen, die andere nicht sehen“

Münster - Warum ist Industriedesign so wichtig? Wie entsteht Kreativität im Design? Wie lassen sich Kreativität und Technik in Einklang bringen? Und: Wie kann man mit den dazugehörigen Ansätzen zahlreiche, zum Teil sehr namhafte Kunden gewinnen? Im Interview mit Wirtschaft aktuell gibt Professor Octavio Nüsse, Inhaber von oco_design aus Münster, Antworten auf diese Fragen.

Professor Octavio Nüsse, Inhaber von oco_design aus Münster. Foto: oco_design

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Herr Professor Nüsse, mit Standbeinen in den Bereichen Industriedesign, User Interface Design, Webdesign, Kommunikationsdesign, Prototyping und Design Consulting hat Ihr Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche, zum Teil sehr namhafte, Unternehmen in verschiedenen Designprozessen begleitet. Woher beziehen Sie und Ihr Team die Inspirationen?
Die entsteht durch ein ganzes Bündel an Faktoren: Da ist zum einen der große Erfahrungsschatz, den all unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbringen. Hinzu kommt, dass die meisten über eine zweite Ausbildung verfügen, sodass sie auch fachfremde Fähigkeiten in den Prozess einbringen können. Den größten Einfluss haben aber sicher die intensiven Briefing-Gespräche mit unseren Kunden. Dort holen wir uns die meisten Inspirationen. Wir lernen Dinge, die wir aus uns selbst heraus einfach nicht wissen können, und wir bekommen ein gutes Gefühl und Verständnis für die Produkte, die unsere Kunden mit unserer Hilfe weiterentwickeln wollen.  

Wie gelingt es Ihnen dabei, immer wieder neue kreative Ansätze zu finden?
Ich selbst habe eine diebische Freude daran, in Geschäften zu stöbern, mir Geräte und Produkte anzuschauen und zu überlegen, wie man die verschiedenen Designs noch besser machen könnte. Wenn ich unterwegs bin, achte ich auf Dinge, die anderen niemals auffallen würden. Neulich ist mir zum Beispiel an einem Glascontainer eine alte, ziemlich dreckige Platte aufgefallen, die ich einfach mitnehmen musste. Ich habe praktisch im Vorbeigehen erkannt, dass diese Platte perfekt zu einer Schale passt, für die meine Frau und ich schon ewig nach einer Abdeckung suchten. Ich weiß, das klingt komisch, aber dieses Beispiel zeigt ganz gut, wie Kreativität funktioniert. Letztlich geht es immer darum, Dinge gedanklich zusammenzubringen, die vorher in keiner unmittelbaren Beziehung standen. In Designprozessen ist so etwas extrem wichtig, weil es dort in ganz besonderem Maße darum geht, vorhandenen Produkten etwas Neues hinzuzufügen. Wenn es dann an die praktische Umsetzung geht, findet man mich immer noch sehr oft in der Werkstatt, wo ich tüftele und Ideen ausprobiere. So oder so ähnlich ticken wir bei oco alle und das bringt uns weiter.

Gerade in der Industrie hat das Design einer Anlage oder eines Gerätes oft erhebliche Auswirkungen auf die Funktionalität. Wie tief tauchen Sie in solche Prozesse technisch mit ein?
So tief, dass sich viele unserer Kunden fragen, wie es sein kann, dass wir nach vergleichsweise kurzer Zeit so viel über ein Produkt wissen, an dem sie selbst viele Jahre gearbeitet haben. Das ist aber auch nötig, weil nur so attraktive Designs entstehen, mit denen die Produkte aus der Masse hervorstechen. Zum einen, aufgrund des Aussehens und zum anderen aufgrund des Handlings. Nicht ganz unerheblich ist aber noch ein weiterer Punkt.

Welcher?
Designoptimierung geht bei uns immer auch mit einer Produktionsoptimierung einher. Indem wir die Anforderungen der Produktion von Anfang an mitberücksichtigen, können wir Designs entwickeln, die in der Herstellung beispielsweise wenig Verschnitt erzeugen oder auch darüber hinaus einfacher zu produzieren sind. Damit helfen wir unseren Kunden am Ende sogar dabei, Geld zu sparen.

Das klingt alles sehr technisch. Was ist wichtiger für Ihre Aufgabe: Kreativität oder technische Kenntnisse?
Beides ist gleich wichtig. Um überhaupt kreative Mehrwerte schaffen zu können, müssen wir technisch sehr tief eintauchen. Sonst würden wir keine sinnvollen Ansatzpunkte finden. Um diese Ansatzpunkte zu finden, ist dann wiederum Kreativität gefragt. Kreativität, so wie ich sie verstehe, heißt ja nicht, dass man biertrinkenderweise über einer Staffelei hängt und sinnlos drauflos malt. Kreativität benötigt eine Richtung. Beim Industriedesign besteht die kreative Leistung in der Regel darin, die vielfältigen Vorbilder, die uns die Natur und die Umwelt liefern, auf eine bestimmte Produktwelt zu übertragen. Es geht darum – ich habe es schon angedeutet –, Dinge und Möglichkeiten zu erkennen, die andere nicht sehen.

Warum sollten sich die vielen Maschinen- und Anlagenbauer, aber auch andere produzierende Unternehmen in unserer Region unbedingt mit Industriedesign beschäftigen? Ist die Optik nicht egal, wenn ein Apparat optimal funktioniert?
Ganz und gar nicht! Und dafür gibt es zwei gute Argumente, auch wenn das erste fast schon banal klingt: Der Wettbewerb macht es auch! Unternehmen, die da nicht mitziehen, werden weniger Erfolg haben. Dahinter steckt die einfache Erkenntnis, dass gute Designs auffallen und sich verkaufsfördernd auswirken – auch im Maschinen- und Anlagenbau.

Was ist Ihr zweites Argument?
Gute Designs zahlen positiv auf die gefühlte Wertigkeit eines Produktes ein. Menschen, die sich ein gut gestaltetes Produkt anschauen, müssen nicht lange von der Qualität überzeugt werden. Das gute Äußere ist praktisch eine Art Qualitätsversprechen. Diesen Effekt nicht zu nutzten, wäre – entschuldigen Sie meine Deutlichkeit – ziemlich doof! Zumal das im Umkehrschluss sogar dazu führen kann, dass sich ein schlechteres Produkt besser verkauft, nur weil es ansprechender aussieht. Auch das kommt immer wieder vor, wenn gute Unternehmen die Bedeutung von Design unterschätzen. Die einschlägigen Argumente, die ja auch in Ihrer Frage mitschwingen, habe ich natürlich auch schon zu hören bekommen. Bei dem einen oder anderen dauert es einfach ein wenig länger, bis sich die Erkenntnis durchsetzt. Es gab beispielsweise ein Unternehmen aus dem Münsteraner Umland, bei dem ich zehn Jahre lang auf Granit gebissen habe, bis dann doch einmal eine Anfrage kam.

Was ist daraus geworden?
Am Ende sind wir ins Geschäft gekommen. Wir haben eine Anlage neu designt und siehe da: Auf der nächsten großen Messe konnte das Unternehmen deutlich mehr Aufmerksamkeit generieren als der Wettbewerb. An das etwas zerknirschte Lob, das ich im Nachhinein von dem Unternehmer bekommen habe, erinnere ich mich noch heute ganz besonders, eben weil er im Vorfeld so skeptisch war.
Gibt es eigentlich Designs, die man nicht weiter verbessern kann?
Ja! Ich denke da zum Beispiel an den weltbekannten Stuhlklassiker von Charles und Ray Eames, auf dem wir gerade sitzen, die Uhren von Patek Philippe oder den Lamborghini Miura, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier wäre jede Veränderung ein echter Sündenfall. Also: Unbedingt die Finger davon lassen!

Haben Sie eigentlich ein besonderes Gespür für designtechnische Defizite?
Ja, bei mir dauert es nur Sekunden und ich kann sagen, ob ein Produkt vernünftig designt wurde oder nicht.

Regt es Sie auf, wenn Dinge nicht gut funktionieren?
Aufregen wäre Quatsch. Da würde ich ja nur wertvolle Energie vergeuden. Hinzu kommt für mich natürlich ein anderer Aspekt: Wenn es diese negativen Bespiele nicht gäbe, hätten wir bei uns im Unternehmen nichts zu tun! Grundsätzlich möchte ich Design aber auch nicht wichtiger nehmen als es ist. Jeder normale Mensch, der in diesen Tagen Nachrichten schaut, kann das gar nicht anders bewerten.
Wie hat sich die Branche in den vergangenen Jahren entwickelt?
Die Konkurrenz ist härter geworden, sodass zuletzt eine ganze Reihe an Begleitern vom Markt verschwunden sind. Zum Glück sind wir nicht so stark gefährdet wie andere.

Warum nicht?
Weil wir ganzheitlich agieren. Bei uns geht man eben nicht nur zum Designer: Wir kreieren auch User-Interfaces, wir entwickeln Web- und Kommunikationsdesigns und wir agieren als Design-Consultants. Nicht zu vergessen: Wir verfügen über eine eigene Prototypen- und Modellbauabteilung.

Warum ist die für Sie wichtig?
Obwohl auch bei uns die Computersimulationen immer lebensechter werden, bleibt bei jedem Produkt eine minimale Diskrepanz zur Realität. Indem wir unsere Designentwürfe als realitätsgetreue Modelle ausarbeiten, sind wir in der Lage, diese Diskrepanz aufzuheben. So können wir ertasten, sehen und erfassen, wo es vielleicht doch noch einen Anpassungsbedarf gibt. Nicht zu vergessen: Mit einem lebensechten Modell ist es viel einfacher, Kunden mitzunehmen und zu überzeugen. Selbst das Interieur für den Mercedes Marco Polo, das wir entwickeln durften, haben wir im Vorfeld komplett in zahlreichen Einzelteilen als Modell gefertigt und in das Fahrzeug eingebaut, um so mit den Verantwortlichen bei Mercedes den Feinschliff zu machen.

Mercedes Benz haben Sie angesprochen, die Liste der prominenten Kunden ließe sich problemlos fortsetzen: Für Playmobil haben Sie Spielzeug-Serien entwickelt, für Melitta Kaffee-Maschinen und andere Küchengeräte, für Grohe Badarmaturen und und und. Worauf sind Sie besonders stolz?
Ich könnte tatsächlich viele Namen, Anekdoten und Projekte benennen. Ganz besonders stolz bin ich am Ende jedoch auf meine wirklich tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ohne die wäre das alles nicht möglich!

Das Interview führte
Michael Terhörst

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