Kreis Borken

„Die Robustheit macht mir Mut“

Wie sich der Kreis Borken zuletzt wirtschaftlich entwickelt hat, welche Themen die Region aktuell bewegen und warum er trotz Pandemie optimistisch in die Zukunft blickt, erklärt Landrat Dr. Kai Zwicker im Interview mit Wirtschaft aktuell.

Landrat Dr. Kai Zwicker

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Herr Dr. Zwicker, als wir anlässlich der letzten Kreisausgabe der „Wirtschaft aktuell“ Ende 2016 das obligatorische Interview geführt haben, hat keiner von uns für möglich gehalten, dass wir uns heute nur unter strengsten Hygienevorschriften mit Maske und viel Abstand voneinander wiedertreffen können. Die Corona-Pandemie hat das alltägliche Leben und insbesondere die Wirtschaft in den vergangenen Monaten stark geprägt. Gleichzeitig zeigen die vom Jobcenter Ende 2020 veröffentlichten Arbeitsmarktzahlen, dass der Kreis Borken die Corona-Krise bislang ganz gut gemeistert hat. Was machen die Unternehmen im Kreis Borken besser als andere?  
Ich bin stolz darauf, dass die Entwicklung viel besser ist als wir vor zehn Monaten befürchtet haben. Unser Arbeitsmarkt hat sich als sehr robust erwiesen. Ich denke, das liegt daran, dass unsere Unternehmen sehr breit aufgestellt sind. Das heißt, wir haben den berühmt-berüchtigten Tausendfüßler – auch, wenn einige diesen Ausdruck nicht mehr hören können, weil er ein bisschen abgedroschen ist. Aber es ist in der Tat so, dass der Kreis Borken von einer klein- und mittelständischen Wirtschaft geprägt ist. Es gibt bei uns sowohl traditionelle Betriebe als auch hochmoderne Unternehmen. Diese Robustheit macht mir Mut für die kommenden Herausforderungen. Denn wir haben die Pandemie noch nicht überstanden. Die wirtschaftlichen Folgen werden sich erst später zeigen. Ich habe allerdings die Hoffnung, dass es danach wieder schnell bergauf geht.

Trägt auch die münsterländische Mentalität dazu bei, getreu dem Motto: „Wir packen das“?
Ja, auch. Aber wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass es auch bei uns Branchen gibt, die von der Pandemie schwer getroffen sind. Weltweit sind der Einzelhandel und die Gastronomie oder auch die Eventbranche enorm betroffen. Außerdem steht die Landwirtschaft unter Druck, die in unserer Region sehr stark ist. Nicht nur die Pandemie hat dort zu Absatzeinbrüchen geführt, weil Kantinen, Restaurants und Gastronomen schließen mussten. Auch die Afrikanische Schweinepest und der Absatzstopp aus Fernost machen sich bei uns bemerkbar. Das führt zu einem Überangebot, das auf die Preise drückt.

Am 27. Dezember 2020 sind die ersten Corona-Schutzimpfungen im Kreis und am 8. Februar 2021 ist das Impfzentrum Kreis Borken gestartet. Wie optimistisch stimmt Sie das mit Blick auf 2021?
Ich bin sehr optimistisch, wenngleich ich glaube, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Sehr optimistisch deswegen, weil uns die Impfungen einen Weg aus der Pandemie aufzeigen. Es ist ohne Zweifel so, dass kein Land der Erde einen ständigen oder ständig wiedereinsetzenden Lockdown aushält. Das betrifft die Wirtschaft, die Finanzen und auch die Menschen. Die Impfungen im Kreis Borken sind gut angelaufen. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn wir schon früher mehr Impfstoff gehabt hätten. Nachdem nun aber auch die Impfstoffe von Moderna und AstraZeneca zugelassen sind, gehe ich davon aus, dass wir nach den Menschen in den Alten- und Pflegeheimen nun bald auch die Mediziner, Ärzte, Pfleger und Schwestern entsprechend impfen können. Das gibt insgesamt Hoffnung. Auch bei der Impfbereitschaft stehen wir gut da: Zwischen 90 und 95 Prozent der Bewohner in den Altenheimen und etwa 80 Prozent der Pflegekräfte lassen sich impfen. Das ist verglichen mit anderen Landstrichen -enorm und zeigt den Zusammenhalt der Menschen. Sie haben die Notwendigkeit erkannt und das entsprechende Vertrauen. Das ist sehr wichtig.


Die letzte Kreisausgabe der „Wirtschaft aktuell“ liegt vier Jahre zurück. Was sind – unabhängig von den Auswirkungen durch die Corona-Pandemie – die größten Unterschiede zwischen dem Wirtschaftsstandort 2016 und heute?
Wir haben schon 2016 und in den Jahren davor eine sehr gute Entwicklung erlebt, die sich noch einmal beschleunigt hat. Man darf nicht verkennen, dass es 2015 und 2016 die Flüchtlingskrise gab. Doch sowohl der Arbeits- als auch der Wohnungsmarkt haben das bisher gut verkraftet. Nach dem Niedergang der Textilindustrie und seit dem Beginn der 2000er Jahre hat sich der Kreis Borken sehr gut entwickelt. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 gab es einen ziemlichen Einschnitt, den
die Unternehmen zum Anlass genommen haben, sich breiter aufzustellen: Nicht nur ein Großkunde, nicht nur ein Produkt, nicht nur der kurzfristige Erfolg, sondern sich breit aufstellen, sich finanziell absichern, Eigenkapital bilden. Das macht sich nun enorm bemerkbar. Außerdem haben die Unternehmen Fortschritte in Sachen Technologie gemacht.


Inwiefern?


Es ist immer viel von Digitalisierung die Rede und es gibt sie in jedem Bereich. Ob in der Tischlerei, dem IT-Unternehmen, im Büroservice, im Maschinenbau – überall ist ein technischer Quantensprung festzustellen. Durch Corona erhält diese Entwicklung sogar noch mehr Schub. Auch die Bevölkerung drängt, noch mehr zu tun. In meinen Augen ist es daher auch die Aufgabe des Staates, die entsprechende Infrastruktur zu schaffen. Es ist ein Unding, dass jeder Kreis das für sich machen muss. Auch wir treiben in Zusammenarbeit mit den Städten und Gemeinden schon seit mehr als 15 Jahren den Breitbandausbau selbst voran. Insgesamt haben wir so eine der höchsten Versorgungsquoten und damit meine ich nicht den theoretischen, sondern den tatsächlichen Glasfaseranschluss FTTH. Rechnet man mit den tatsächlichen Anschlüssen mit Glasfaser, nähern wir uns den 50 Prozent. Das ist ein -enormer Wert. Auch in anderen Bereichen sind wir aktuell dabei, vorhandene Lücken zu schließen, Stichwort Mobilfunk 5G. Wir sind als Grenzkreis mehr als andere Regionen von Funklöchern betroffen, weil die Staatsverträge der Telekommunikationsunternehmen uns daran hindern, über die Grenze zu senden. Auch da finden wir Lösungen und die Strukturen in den Konzernen weichen langsam auf. Gemeinsam mit der Fachhochschule Südwestfalen gibt es aktuell wissenschaftliche Untersuchungen, mit denen wir Funklöcher ausfindig machen. Wir sind sehr optimistisch, dass wir sie auf dieser Basis dann auch schließen können.

Mitte Januar haben Sie als einer der ersten Kreise in Nordrhein-Westfalen einen Telenotarzt eingeführt – auch ein Projekt, das ohne Digitalisierung nicht möglich wäre. Was hat es damit auf sich?
Der Telenotarzt wird mithilfe der 5G-Technik Notfallsanitäter bei ihren Einsätzen unterstützen, indem er sie im Notfall virtuell exakt anleitet. Ärzte werden knapper und obwohl wir eigentlich ganz gut aufgestellt sind, gibt uns der Notarzt per 5G noch einmal mehr Sicherheit. Wir arbeiten an dieser Stelle mit der Universität und der Universitätsklinik Aachen zusammen. Den Telenotarzt gibt es bisher nur zwei Mal in Westfalen: in Aachen und im Kreis Heinsberg. Nun kommt der Kreis Borken dazu. Da setzen wir Meilensteine.

Wie bewerten Sie denn insgesamt den Status quo in Sachen Digitalisierung im Kreis Borken?
Wir müssen da keinen Vergleich scheuen. Im Bereich Breitband und in der IT-Entwicklung nehmen wir aus meiner Sicht sogar eine Vorreiterrolle ein. Wir haben wirklich viele moderne Zukunftstechnologien und wir haben Hotspots im Bereich der Softwareentwicklung. Gepaart mit unserer mittelständischen Struktur ergibt sich daraus eine sehr gute Ausgangslage. Das heißt aber ausdrücklich nicht, dass wir uns satt und zufrieden zurücklehnen dürfen. Das wäre der Anfang vom Ende. Doch die Unternehmen und die Menschen bei uns sind darauf hungrig und heiß, sich weiterzuentwickeln. Dieser Ehrgeiz muss sein und den haben wir.

Über den Breitbandausbau haben wir schon gesprochen. Bis auf wenige Lücken ist der Kreis Borken schon flächendeckend ans schnelle Netz angeschlossen. Was sind die nächsten Schritte in Richtung Digitalisierung?
Wir sind mit der Infrastruktur noch nicht fertig. In den Außenbereichen gibt es mittlerweile eine sehr gute Versorgung, was auch dadurch bedingt ist, dass der Kreis im ersten Schritt fast 75 Prozent der landesweiten Förderung für den Ausbau im Außenbereich abgreifen konnte. Nach wie vor möchten wir die noch vorhandenen weißen Flecken schließen.

Wie gehen Sie in der Kreisverwaltung eigentlich die Digitalisierung an?
Wir sind seit mehreren Jahren intensiv dabei, die wesentlichen Bereiche in der Verwaltung zu digitalisieren. Das hört sich ganz einfach an, ist aber häufig ein sehr komplexer Vorgang. Denn jeder Fall ist individuell. Das zeigt sich insbesondere bei Baugenehmigungsverfahren: Das sind dicke Akten, die digital transformiert werden müssen. Daher wäre es schön, wenn wir mehr Vorgaben und Softwaremöglichkeiten vom Land bekämen, aber die sind häufig noch nicht so weit. Gleichwohl haben wir die wesentlichen Bereiche in der Verwaltung – etwa im Zulassungswesen, in der Geoinformation und im Katasterwesen – bereits digitalisiert. Etwa zwei Drittel unserer Akten und Verwaltungsvorgänge laufen damit digital. Mit den 17 Städten und Gemeinden arbeiten wir zum Beispiel bei der sogenannten E-Akte zusammen. Sie kommt in den Jobcentern zum Einsatz. Und natürlich möchten wir auch die Unternehmen dabei unterstützen, sich selbst digitaler aufzustellen.

Wie möchten Sie das angehen?
Wir müssen Unternehmen nicht erklären, wie die Welt funktioniert. Das wissen die schon selbst und sie kennen sich in ihrem Bereich sowieso besser aus als wir. Wir möchten jedoch anregen und Plattformen bieten, Netzwerke knüpfen, Dinge zusammenführen oder auch Türen öffnen. Das macht unsere Wirtschaftsförderungsgesellschaft gut und so nimmt die Digitalisierung immer mehr Raum ein. Aber Digitalisierung heißt nicht: „Wir setzen eine Frist und dann ist alles fertig.“ Es ist ein Dauerprozess, der nicht überall gleich und nicht in jedem Bereich im gleichen Tempo abläuft. Digitalisierung heißt nicht, dass man nicht mehr miteinander spricht und sich nur noch via Bildschirm trifft. In der Pandemiezeit haben wir Videokonferenzen, Homeschooling und so weiter kennengelernt. Doch alle wissen, dass der Teufel im Detail steckt. Homeschooling funktioniert nicht immer, ein Kind braucht den Kontakt zum Lehrer. Eine Videokonferenz ist ganz nett, aber die Leute sind zum Teil sehr abgelenkt, man hört keine Zwischentöne, das persönliche Gespräch am Rande fehlt. Und man merkt: Ja, es hat sich eine Menge getan, aber das alles ist eine Ergänzung. Das Menschliche gehört dazu. Und ich glaube, das ist eine große Stärke unserer Region: das gemeinsame, das Netzwerk. Die Unternehmerinnen und Unternehmer kennen sich und ihr „Revier", sie arbeiten zusammen. Und das funktioniert nur, wenn man sich vertraut. Dafür braucht es das gemeinsame Gespräch.

Welche weiteren Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für Unternehmen?
Es sind schon wichtige Weichen in vielen Bereichen gestellt. Ich habe über die Infrastruktur gesprochen: Wir erfassen nicht nur die weißen Flecken im Glasfasernetz, sondern auch im Mobilfunk. Ein wichtiger Punkt, um die 5G-Technik ans Laufen zu bringen. Außerdem gibt es eine enge und gute Zusammenarbeit mit den Hochschulen und Fachhochschulen. Ich freue mich zum Beispiel sehr über das Projekt Gesundheitscampus in Bocholt, das auch wirtschaftliche Kraft entfalten soll. Der Gesundheitscampus wird vom Klinikum Westmünsterland und der Fachhochschule Münster-Steinfurt aufgebaut. Ich verspreche mir davon eine Attraktivitätssteigerung für die Region und die Gewinnung von zusätzlichem Personal für den medizinischen Bereich, der sich aktuell zum wiederholten Male als wichtiger Standortfaktor herausstellt. Die Kontakte zu den Hochschulen sind sehr wichtig. Auch deshalb hat unsere Wirtschaftsförderungsgesellschaft einen guten Ruf. Insgesamt möchten wir das Münsterland als gesamte Region voranbringen und positionieren. Deshalb ist zum Beispiel der Münsterland e.V. ein wichtiger Baustein. Mit Kirchturmdenken kommen wir nicht weiter: Wichtig ist, dass man im Bereich der Wirtschaft regional denkt, um gemeinsam stärker nach außen zu treten. Dann können wir auch im regionalen Wettbewerb gut bestehen. Denn im Münsterland ist es schön, bei uns leben nette Menschen, bei uns gibt es Wohnverhältnisse, die ihresgleichen suchen und die auch noch bezahlbar sind. Die Strukturen für junge Familien sind ebenfalls ordentlich. Viele junge Menschen gehen gerne mal in die Großstadt, stellen dann aber fest, dass es sich bei uns in der Region auch sehr gut leben lässt. Wir merken daher immer stärker, dass mehr junge Menschen wieder zurück in die Region kommen. Darauf bauen wir auch.

Wenn wir auf die Herausforderungen der Wirtschaft in den vergangenen Jahren blicken, dann war eines der zentralen Themen immer der Fachkräftemangel. Täuscht der Eindruck, oder ist der Fachkräftebedarf – trotz der niedrigen Arbeitslosenquote – aktuell tatsächlich infolge der Corona-Pandemie geringer?
Nein, überhaupt nicht. Erst einmal haben wir die Hoffnung, dass die Pandemie tatsächlich mit Auslaufen des Jahres 2021 immer mehr Geschichte wird. Dazu sind die Impfungen erforderlich. Aber die demografische Entwicklung bleibt: Die Baby Boomer werden in den Ruhestand gehen und weniger junge Menschen werden nachrücken. Außerdem hat der technologische Schub zu mehr Beschäftigung geführt. Deshalb brauchen wir hochqualifizierte Fachkräfte. Das ist auch im internationalen Vergleich wichtig. Ich sehe also nicht, dass sich die Entwicklung um-gekehrt, im Gegenteil. Denn wir merken auch, dass in anderen Bereichen wie in der Kinderbetreuung, an Schulen oder in der Medizin Personal fehlt. Nicht nur die Wirtschaft ist betroffen, sondern alle Bereiche. Wir haben nach wie vor Fachkräftemangel.

Sicher ist auch 2021 im Kreis Borken kein Jahr des Stillstands. Welche Projekte stehen bei Ihnen für die Kreisentwicklung 2021 auf dem Plan?
Mit Blick auf die Wirtschaft haben wir einen ganz großen Punkt bereits genannt und das ist der Bereich Weiterentwicklung der Infrastruktur, sprich Breitband und 5G. Auch der neue Regionalplan spielt eine große Rolle: Die Kommunen müssen aktuell überlegen, wie sie ihren Flächenbedarf für Wohnen und Gewerbe decken können. Ansonsten ist das allerwichtigste, dass wir unsere Stärken bewusst stärken. Das gilt zum Beispiel für den Verkehr und die Radwege, die wir ausbauen wollen. Insbesondere gilt das aber für die gute Bewältigung der Pandemie. Sie steht 2021 an oberster Stelle. Wir möchten dabei aber auch den Rest nicht vergessen. Eine ganz große Herausforderung ist nach wie vor der Klimawandel. Hier ist der Kreis Borken sehr gut unterwegs. Wir haben sehr viel regenerativ erzeugten Strom, wir gehen auf 80 Prozent Stromäquivalent zu. Und der verträgliche Ausbau der regenerativen Energien steht auch weiterhin auf der Tagesordnung. Ich denke etwa an den Trassenausbau für Strom und Gas. Ich glaube, dass wir auch in diesem wirtschaftlichen Segment sehr gut aufgestellt sind, weil wir eine hohe Anzahl an Beschäftigten im Bereich der regenerativen Energien haben – ob bei Windrädern, Biogasanlagen oder der Kraft-Wärme-Kopplung. Da steckt viel Know-how. Seit geraumer Zeit gehen wir auch das Thema Wasserstoff an.

Herr Dr. Zwicker, aktuell befinden wir uns mitten in der zweiten Welle der Corona-Pandemie. Warum können die Menschen und insbesondere die Wirtschaftstreibenden im Kreis Borken aus Ihrer Sicht trotzdem positiv in die Zukunft schauen?
Der Zusammenhalt, den wir alle in der Pandemie zeigen, hat unsere Stärken deutlich untermauert. Der Zusammenhalt sowohl der Menschen als auch der Firmen untereinander, die sich geholfen haben, bis hin zum exzellenten Zusammenspiel zwischen dem Kreis und den Kommunen hat gezeigt, wie viel Kraft hier steckt und wie viel Optimismus. Die Haltung „da müssen wir durch und wir schaffen das“ ist viel stärker als das Gemäkel. Das gibt mir viel Mut für die Zukunft.

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