Stefan Rymar | „Unser Ziel muss es sein, Werbung zur Information zu machen“

Gronau - Stefan Rymar ist Gründer und ehemaliger CEO von Elbkind, einer der größten Social-Media- und Digitalagenturen in Deutschland. Der gebürtige Gronauer ist heute als Berater unterwegs und doziert an der FH Münster in den Bereichen Marketing und Strategie. Im Interview mit Wirtschaft aktuell spricht er über Chancen und Herausforderungen im digitalen Marketing und erklärt, warum ganz am Anfang sehr analoge Ideen stehen.

Stefan Rymar. Foto: privat

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Herr Rymar, Gronau ist vielleicht eine Hauptstadt des deutschen Pop, aber als digitale Metropole eher nicht bekannt. Warum sind Sie hier?

Ich bin eigentlich wieder da. Ursprünglich komme ich aus Gronau, habe nach meinem Studium in Münster dann in Hamburg gearbeitet und dort mit zwei Partnern die Social-Media-Agentur Elbkind aufgebaut, zu internationalem Erfolg gebracht und schließlich an ein großes Beratungsnetzwerk verkauft. Eine Wahnsinnsreise. Drei Jahre nach dem Verkauf hat es mich dann aus persönlichen Gründen wieder ins Münsterland gezogen, was sich als durchaus reizvoll im Bezug auf meine Arbeit als Berater herausgestellt hat. Hier geht es nicht immer um die letzten paar Prozent, sondern darum, mit wenig Einsatz viel auszurichten. Es ist auch eine andere Beziehungsebene: In Gronau passiert es, dass ich dem nächsten Auftraggeber abends noch im Restaurant gegenübersitze. Die Herausforderungen sind oft viel greifbarer und Erfolge schnell sichtbar.

Eine Grundsatzfrage zum Start: Ist digitales Marketing eigentlich für jeden etwas?

Nein, nicht unbedingt. Beispielsweise erreichen lokal etablierte Handwerksbetriebe ihre Kunden immer noch häufig über gute Arbeit und Mundpropaganda. Da würde eine digitale Agentur für viel Geld für kaum mehr Umsatz sorgen. Vor allem, wenn das Unternehmen insgesamt noch nicht stark digitalisiert ist oder deren Zielgruppe nicht in digitalen Medien vertreten ist. Der Trend geht aber natürlich klar dorthin und ich kann es auch nur jedem Marktteilnehmer ans Herz legen, zumindest die Beobachtungsmöglichkeit von digitalen Medien zu nutzen: Bewertungen, Suchmaschinenergebnisse, Social-Media-Kommentare. Das Netz ist voll mit Meinungen und Impulsen und manchmal auch geschäftsschädigen Kritiken, die man zumindest kennen sollte. Die ersten Gehversuche kann man oft auch ohne Experten selber machen. Meistens schnell mit guten Erfolgen. Und wenn das gut läuft und der Umsatz spürbar hochgeht, dann macht das Beauftragen einer Agentur oder das Einstellen eines Experten durchaus Sinn, da sich dieses Unterfangen dann quasi von selbst bezahlt.

Wo steht das digitale Marketing in Deutschland heute? 

Heute gibt es keine Grenze mehr zwischen digitalem und analogem Marketing. Was vor 20 Jahren eine Nische war, ist heute Hauptbestandteil des gesamten Marketing-Budgets. Und nach wie vor ist der Digitalbereich einer, der sich unfassbar schnell entwickelt. Über Jahrzehnte hat sich im Marketing nicht viel getan, aber jetzt gibt es monatlich neue Plattformen, neue Formate, neue Technologien. 

Aber noch ehe ich mich mit neuen Technologien beschäftige, steht eine andere Aufgabe an. 

Genau. Der erste Schritt muss immer sein, eine ehrliche Antwort auf die Frage zu finden, wie mein Produkt oder Service das Leben der Menschen besser, witziger, einfacher macht. Diesen Wert muss ich für mich klar definieren und aufschreiben. Danach überlege ich, wer die Menschen sind, für die mein Produkt genau diese Relevanz besitzt. Wenn ich also weiß, was ich warum an wen verkaufe, dann kommen im nächsten Schritt die Marketingbotschaft und die passenden Kanäle von selbst.

Ein Beispiel? 

Mein Produkt richtet sich beispielsweise an Studierende. Ein veganer Smoothie, der die Lernleistung verdoppelt und dabei auch noch jeden Hangover ausmerzt. Damit ist klar, dass meine Zielgruppe unter 25 ist, gerne feiert, ernährungsbewusst ist. Und gerade in der Hochschulausbildung und damit hoch digital ist. Dann muss ich dafür nicht ins analoge TV und auch Radio wäre nicht ratsam. Auch nicht zu Facebook, sondern zu TikTok oder mindestens auf Instagram. Und damit ist dann auch klar, dass ich in irgendeiner Form Bewegtbildinhalte produzieren muss. Bestenfalls in der typischen Anmutung erfolgreicher Food- und Lifestyle-Influencer. Und so beantwortet sich mein Kreationsbriefing Stück für Stück von selbst, wenn ich beim Produktnutzen von Anfang an ehrlich und kritisch mit mir selbst bin.

Wird der digitale Raum trotz klarer Zielgruppen noch unterschätzt?

Durchaus. Vor allem dort, wo man nicht bereits digital aufgewachsen ist. Junge Start-ups oder Unternehmen mit digitalen Produkten wissen genau, wie sie agieren müssen. Das ist zum Beispiel im handwerklichen Bereich nicht so ausgeprägt. Umgekehrt gilt aber auch: Die analoge Kraft der Begegnung wird oft von digital getriebenen Unternehmen unterschätzt. Etwas in der Hand zu halten, es zu sehen: Das hat auch einen Wert. Mit einem Menschen zu reden, Produkte physisch vorgeführt zu bekommen. Das ist immer noch ein sozialer Klebstoff, den auch eine VR-Brille (noch) nicht ersetzt.

Die Corona-Pandemie hat in vielen Branchen Spuren hinterlassen. Auch im digitalen Marketing? 

Auf jeden Fall. Vieles geht schneller, durch Remote Work ist eine neue Arbeitsmentalität entstanden. Das hat aber auch eine Kehrseite. Werbung lebt von hoher Kreativität. Die besten Ideen entstehen tatsächlich an der Kaffeemaschine, im Gespräch oder klassisch am Kickertisch. Das ist ein schwer zu greifender Prozess und der ist teilweise verloren gegangen während der Pandemie. Das Marketing insgesamt wurde dagegen nach vorn katapultiert, weil sich eben vieles ins Digitale verschoben hat. Zwar wurden die Werbebudgets zusammengestrichen, doch der Anteil für digitale Maßnahmen ist deutlich größer geworden. Dieser Effekt wird sich künftig noch verstärken. 

Welche Social-Media-Kanäle sind heute für das Marketing wichtig? 

Das lässt sich grob definieren. Die Zielgruppe 35 Jahre und älter erreicht man auf Facebook. Menschen ab 25 sind auf Instagram. Alles darunter ist TikTok und Snapchat. YouTube lohnt sich nur, wenn man ohnehin viel mit Bewegtbild oder Tutorials macht. Unterschätzt wird meiner Meinung nach LinkedIn. Hier agieren Menschen in ihrer beruflichen Persönlichkeit und konsumieren, erstellen und teilen ganz andere Inhalte. Aber genauso erfolgreich. Ich formuliere es mal so: Anzug bei LinkedIn, Hoodie auf Instagram. Es macht also durchaus Sinn zu überlegen, welche Aspekte man in welcher Form wo zeigen will. Und dann ist es auch ein guter Kanalmix, der zum Erfolg führt.

Gibt es dabei Prozesse, die in der analogen Welt funktionieren, digital aber nicht? 

Letztlich sprechen wir über ähnliche Mechanismen, nur auf unterschiedlichen Plattformen. Allerdings gibt es Bereiche, die nur schwer komplett zu digitalisieren sind, beispielsweise Events und Messen. Digitale Tools können die persönliche Begegnung da oft nicht ersetzen, dort fehlt der bereits beschriebene „soziale Klebstoff“. Manchmal ist es einfach das Gespräch auf der Messeparty, das den Deal bringt. Und nicht die wunderschöne 100 Seiten PowerPoint-Präsentaion von zwei Stunden vorher.

Die Erwartungshaltung ist ja meistens: Digital bringt sofort Ergebnisse. Ist das so? 

Das ist nicht so einfach zu beantworten. Wenn ich eine Marke aufbauen will, ein Gefühl rund um ein Produkt, dann dauert das. Damit die Gesellschaft meine Marke versteht, muss die Botschaft kontinuierlich wiederholt werden. Deshalb haben wir viele alte Werbesprüche noch heute im Kopf. „Freude am Fahren“ wurde einfach durch unendliche Wiederholung auf Plakaten und zwischen meinen Lieblingssendungen in mein Gehirn gepflastert. Wenn ich allerdings direkte Verkäufe plane, wenn ich Bewerber oder qualifizierte Kontakte suche, dann ist digitales Marketing unglaublich schnell. Dafür braucht es ein passendes Budget. Und das ist mittlerweile ähnlich hoch wie bei der „klassischen“ Kommunikation. Nicht das Werbemittel ist teuer, sondern dessen Verbreitung.

Wie misst sich der Erfolg? 

Da gibt es eine Falle, in die viele laufen. Man orientiert sich an Views, Likes und ähnlichen sogenannten „Engagement“-Zahlen. Dafür kann man sehr viel Geld bezahlen aber im Grunde sagen diese Zahlen erstmal gar nichts über den Erfolg in messbarem Euro aus. Wenn 100.000 Menschen meine Werbung sehen, aber keiner mein Produkt kauft, ist das dann ein Erfolg? Entsprechend ist es immer gut, wenn man seine Marketingaktivitäten an messbare Verkäufe, Leads, Shop-Besuche oder ähnliches knüpft. Und da wissen wir mittlerweile sehr genau, mit welchem Budget wir bestimmte Verkaufszahlen erreichen. Schwieriger ist es nach wie vor, den Erfolg von Marken- und Imagemaßnahmen zu messen. Das wird aktuell durch KI und eine sehr tiefe Datenanalyse durchaus einfacher, ist aber immer noch im Bereich der qualitativen Analyse, was bedeutet, dass man teilweise subjektiv auswerten muss, wie sich bestimmte Markenwerte in der Wahrnehmung der Zielgruppe verändert haben. Durch Befragungen, Social-Media-Analysen und vieles mehr.

Als Berater werden Sie vermutlich auch unterschiedliche Erwartungen moderieren müssen … 

Man orientiert sich tatsächlich oft an Erfolgsgeschichten, an viralen Effekten. Doch das sind eher Lottogewinne, so etwas lässt sich nicht planen. Nur stimulieren. Die Erwartung von Kunden ist oft: Die Agentur macht das und schon läuft es. Dabei ist es ein langer Weg zum Erfolg. Und ich glaube, dass Agenturen oft zu zurückhaltend sind, dem Kunden das so ehrlich zu sagen. Wenn mein Produkt nicht nützlich ist oder die Qualität nicht stimmt, dann wird das auch nicht durch Anzeigen oder mit einem riesigen Budget besser. Hier muss ich vorher dem Auftraggeber sagen, was sonst später die Kunden tun. Das ist unser Beratungsauftrag.

Sie sprachen anfangs unseres Interviews davon, dass man digitales Marketing im Grunde auch selbst leisten kann. Die Zeiten, in denen das der Praktikant nebenher gemacht hat, sind aber vorbei, oder? 

Das war noch nie Praktikantenjob. Zumindest nicht, wenn der Praktikant nicht gerade Top-Creator auf TikTok ist. Ich rate Unternehmen immer dazu, jemanden einzustellen, der nur für das Marketing zuständig ist. Zumindest so lange, bis man ausreichend eigene Kompetenz aufgebaut hat. Erst dann darf man Marketing auslagern. Sonst macht man sich abhängig von externen Partnern, die oft die Produkte nicht verstehen oder die Zielgruppe nicht kennen. Und wenn die Agentur wechselt oder auch nur die Ansprechpartner dort, steht man wieder bei Null. Dabei muss Marketing unternehmerische Kernkompetenz sein, da muss ich mich auskennen. 

Schwierige Themen gibt es auch im digitalen Marketing. Stichwort Datenschutz … 

… was ein Grundbedürfnis der Gesellschaft ist. Wir bewegen uns in einem Medium ohne Landesgrenzen, oft mit Servern außerhalb Deutschlands. Dort trifft unsere Datenschutzmentalität auf einen anderen Wertekodex. Allerdings handeln wir selbst oft nicht einheitlich. Über Werbepost im Briefkasten ärgern sich viele, geben aber ihre Daten bereitwillig online ab. Der Facebook-Konzern Meta sichert sich die Rechte an unseren Fotos, das wissen viele Nutzer gar nicht. Sprachassistenten wie Alexa oder Siri sind darauf aus, Daten zu sammeln. Alles mündet in Werbeprofile. Umgekehrt beschäftigen sich viele Unternehmen auch nicht damit, ob die eigenen Mitarbeiter in Social Media überhaupt erscheinen möchten, sondern veröffentlichen fleißig Weihnachtsfeier-Fotos auf ihren Social-Media-Kanälen, bestenfalls noch mit Verlinkung zu den privaten Profilen der Mitarbeitenden. Es ist also wichtig, sich auch mit dem rechtlichen Rahmen zu beschäftigen. 

Wie abhängig ist digitales Marketing von den Algorithmen der großen Plattformen? 

Früher hat man Marketing-Strategien für ein oder zwei Jahre geschrieben. Heute muss man sie quartalsweise oder sogar monatlich anpassen. Wenn Bewegtbilder plötzlich höher gewichtet werden als statische Posts und Fotos, muss ich schnell darauf reagieren. Digitales Marketing ist kleinteiliger, agiler. Vorbereiten sollte man sich übrigens auch auf „Shitstorms“ und zwar noch ehe sie auftreten. 

Was raten Sie in solchen Fällen den Unternehmen?

Ruhe bewahren. Nicht sofort antworten, denn die erste Antwort ist meistens schlecht. Im Falle von Ärger braucht es eine klar definierte Krisenkette, einen abgestimmten Prozess im Unternehmen. Was wird geantwortet? Wer wird informiert? Das müssen Unternehmen alles für sich definieren. Aber manchmal liegt eben auch eine Chance darin, wenn man auf sachliche und inhaltliche Kritik eingeht und das eigene Produkt verbessert. 

Wagen Sie zum Schluss einen Ausblick. Was werden die nächsten großen Themen des digitalen Marketings sein?

Aktuell gibt es einen starken Trend zu automatisierten Maßnahmen. Maschine statt Mensch. Im Kern geht es darum, potenzielle Kunden individuell anzusprechen. Ein Plakat ist für alle okay, aber für niemanden super. Digital dagegen könnte ich, wenn ich die Ressourcen hätte, jedem Kunden eine eigene Botschaft senden. Die Technologie gibt bereits her, dass eine KI massenweise höchst personalisierten Abformate von einer Werbebotschaft für jedes noch so kleine Zielgruppensegment erstellt. Das wird vieles verändern und wenn wir es gut machen, bedeutet das nicht mehr Content, sondern mehr relevanten Content. Was auch meinen Grundsatz seit Tag eins bedient: Unser Ziel im Marketing muss es sein, Werbung zur Information zu machen. Denn dann will sie jeder sehen.  Allerdings verbirgt sich hier ein weiteres Thema. Der CO2-Fußabdruck von KI ist gewaltig und mit Blick auf das Thema Nachhaltigkeit wird uns das im Marketing noch richtig beschäftigen. So wie auch die Bereiche Lizenzrechte oder Urheberrechte. Also die Schattenseiten der KI. Das wird uns definitiv noch über viele Monate begleiten und meiner Meinung nach auch viele andere Themen erstmal in den Hintergrund stellen. Zumindest macht man in meinen Augen nichts falsch, wenn man sich mindestens genauso enthusiastisch mit dem Thema KI im Marketing beschäftigt, wie man es seinerzeit mit Social Media gemacht hat.

Das Interview führte Carsten Schulte

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