Blick von außen | „Die Energiewende bietet viele Chancen für die Region“

Der Ausbau der erneuerbaren Energien bietet große Chancen für Kommunen, Regionen und mittelständische Unternehmen, sagt Professor Dr. Josef Gochermann, der die Professur Marketing und Technologiemanagement an der Hochschule Osnabrück verwaltet. Der studierte Physiker forscht zur Energiewende und hat zwei Bücher darüber geschrieben. Warum die Siedlungsstruktur im Münster- und Osnabrückerland, im Emsland und in der Grafschaft Bentheim optimale Bedingungen für die Energiewende aufweist, und wo die Probleme liegen, erklärt er im Gespräch.

Professor Dr. Josef Gochermann blickt auf die Energiewende in der Region. | Foto: Hochschule Osnabrück

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Herr Dr. Gochermann, die Bundesregierung diskutiert derzeit über Laufzeitverlängerungen von Kohle- und Atomkraftwerken. Warum funktioniert der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht schnell genug?
Wir sind auf den Wandel des Energiesystems nicht ausreichend vorbereitet. In der großen politischen Debatte stand die Energiepolitik jahrzehntelang nur im Hintergrund. Die einzigen, die den Ausbau der regenerativen Energien forcieren wollten, waren die Grünen. Über die Energiewende wurde fast nur negativ berichtet: Das ist viel zu volatil, nicht sicher genug. Und die großen Konzerne haben das unterstützt und gesagt: Solange die Energie vorhanden und preiswert ist und ihr euch um nichts kümmern müsst, ist doch alles in Ordnung.

Hat das Umdenken erst durch den Ukrainekrieg und die aktuelle Energiekrise stattgefunden?
Das hat bereits vor fünf, sechs Jahren begonnen, als die Industrie anfing, umzudenken. Mittlerweile haben die Unternehmen das Ruder herumgerissen, weil sie wissen, wir müssen jetzt Investitionsentscheidungen im Energiebereich treffen, die für die nächsten 30, 40 Jahre gelten. Wer jetzt noch in alte Technologien investiert, läuft Gefahr, dass er eine Fehlinvestition macht. Die Unternehmen sind viel weiter als die Politik, das habe ich auch in meinem jüngsten Buch „Halbzeit der Energiewende?“ gezeigt. Ein Problem in Deutschland ist, dass wir eine Versorgungspflicht des Staates haben.

Ist das nicht gut, dass der Staat die Pflicht hat, unsere Versorgung mit Energie sicherzustellen?
Unser Bundeswirtschaftsminister reist durch die Welt, um Gas für uns einzukaufen, weil der Staat dazu verpflichtet ist, die Energieversorgung zu garantieren. Diese Versorgungspflicht stammt aus dem ersten Energiewirtschaftsgesetz von 1935. Um „mögliche schädliche Einflüsse des Wettbewerbs“ fernzuhalten, hat man damals die Energieversorgung dem Staat übertragen. Das hat dazu geführt, dass selbst Unternehmer sich jahrelang nicht damit beschäftigt haben, wo die Energie herkommt. Strom kam aus der Steckdose, da war mein Stadtwerk für zuständig, der wurde geliefert. Diese staatliche Versorgungspflicht haben wir in keinem anderen Bereich. Wenn Unternehmer Material besorgen, Leute einstellen, Produktionsverfahren entwickeln, Märkte erkunden oder ihre Prozesse optimieren, sind sie zum Glück auf sich gestellt. Nur die Versorgung mit Energie soll Pflicht des Staates sein? Das hat dazu geführt, dass die Menschen jetzt erwarten, dass einer sie versorgt. 

Aber es ist doch wichtig, dass die Energieversorgung sichergestellt wird.
Klar, es muss jemand dafür sorgen, dass Energie vorhanden und verfügbar ist, aber das kann man doch auf mehrere Schultern verteilen. Warum soll das eine Institution alleine machen? Unsere ganze kommunale Philosophie ist darauf ausgerichtet, dass die Grundversorgung der Menschen von den Kommunen geleistet wird. Nur bei der Energie nicht. Das habe ich nie verstanden. Mein Plädoyer ist, die Verantwortung für die Verfügbarkeit von Energie breiter zu verteilen: von der Versorgungspflicht zur Verfügbarkeitsverantwortung.

Inwieweit hängt die Energiewende dabei von den Kommunen und Regionen ab?
Dort vollzieht sich die Energiewende spürbar, weil sich auf der Ebene das gesamte System verändert. Wenn man nur Teile des Systems durch andere austauschen will, funktioniert das nicht. Ein Kohle- oder Kernkraftwerk, das für eine Grundlast gesorgt hat, kann nicht einfach nur durch einen volatilen Solar- oder Windkraftpark abgelöst werden. Das gesamte System verändert sich. Und dieser Paradigmenwechsel findet auf der regionalen Ebene statt.

Die Entscheidung liegt doch nicht bei der Kommune, ob ein Kohlekraftwerk ausgeschaltet wird oder nicht.
Die Energiewelt kann man in vier verschiedene Ebenen einteilen. Ganz oben ist die internationale Ebene, auf der die Staaten sich austauschen. Darunter gibt es eine nationale Ebene: Da findet ein Technologiewandel statt. Großkraftwerke werden ausgeschaltet, dafür große Off-Shore-Windanlagen, andere Netze, neue Steuerungen gebaut. Ganz unten gibt es die individuelle Ebene: Haushalte, kleine Betriebe, in denen jeder selbst Energie neu erleben kann, indem er sich eine Photovoltaikanlage auf das Dach installiert oder ein Nullenergiehaus baut.

Und zwischen der individuellen und der nationalen Ebene findet derzeit der große Paradigmenwechsel statt?
Ja, da liegt die regionale Ebene. Die war früher nur die Verteilebene. Die Stadtwerke hießen früher auch Verteilnetzbetreiber. Sie waren lediglich dafür da, die Energie an die Abnehmer zu verteilen.

Jahrzehntelang hieß es, nur die großen Kraftwerke können uns stabil und sicher Energie liefern.
Die alte Energiewelt war geprägt durch die Eigenschaften: planbar, langfristig, stabil. Fünf Jahre lang wurde ein Kraftwerk gebaut, das dann anschließend 40 Jahre lang lief. Die Vertriebler waren reine Kilowattstundenverkäufer, es war ein sehr einfaches Geschäft. Dieses stabile System war darauf ausgerichtet, dass sich bloß nichts verändern sollte. Stabilität, sichere Stromversorgung und sichere Preise, das haben wir auch alles super gut erfüllt. Wir haben in Deutschland im Jahr pro Kopf etwa sieben Minuten Stromausfall und das meiste davon bekommt man gar nicht mit. Und dann kommt plötzlich einer und sagt, jetzt machen wir alles anders, jetzt kommt die Energiewende.

Wie sieht die Energiewelt der Zukunft aus?
Die Energiewende geht mit Innovationen in die Fläche. Jetzt kann sich jeder beteiligen. Die neue Energiewelt ist volatil, kleinteilig und dezentral. Sie ist geprägt durch dezentrale Strukturen, erneuerbare Energien und intelligente Systeme, die das miteinander verbinden. Natürlich haben die großen Konzerne noch die Aufgabe, das Netz stabil zu halten. Aber auf der dezentralen, regionalen Ebene werden die Lösungen entwickelt, dort werden die Innovationen umgesetzt.

Ist das auch eine Chance für die Regionen?
Ja, natürlich. Das Problem ist nur, dass wir auf nationaler Ebene immer noch zentrale Einrichtungen haben, wie die Bundesnetzagentur, die meinen, sie müssten alles regulieren, bis hinein in die regionale oder sogar individuelle Ebene. Als Privatperson darf man zum Beispiel auf seinem Dach nur bis zu einer bestimmten Größe eine Solaranlage installieren, sonst gilt man als Gewerbetreiber. Solche Vorgaben bremsen den Ausbau der erneuerbaren Energien.

Bremst diese zentrale Überregulierung auch Unternehmen aus?
Ja, sehr. Zum Beispiel, wenn sich in einem Gewerbegebiet mehrere Firmen zu einer Partnerschaft zusammenschließen möchten, um ihre Energienutzung zu optimieren: Bei mir entsteht Abwärme, die kann ich dir geben, du brauchst zu der Zeit Strom, wenn ich keinen Strom mehr brauche und so weiter. Solche Projekte sind unglaublich schwierig umzusetzen, weil so viele Hemmnisse durch Bürokratie eingebaut sind. Wir verschenken im Moment sehr viele regionale Potenziale. Hätten wir jetzt auf jedem Dach eine Photovoltaikanlage und überall dort, wo es möglich ist, eine Windkraftanlage, würden wir viel mehr eigene Energie erzeugen und hätten nicht so starke Probleme durch den Wegfall des Gases. Wir erschließen unsere Energiequellen vor Ort nicht genug, weil irgendwo Leute sitzen, die meinen, man kann das doch nur groß und zentral machen. Das ist aber nicht die Denkweise der Mittelständler.

Welche Möglichkeiten bietet die Energiewende für mittelständische Unternehmen?
Für sie ergeben sich auf drei Ebenen neue Chancen: Erstens, übernehmt im eigenen Unternehmen selbst mehr Verantwortung für die Energieversorgung! Das heißt, eigene Gewinnung durch regenerative Anlagen, neue Konzepte im Unternehmen entwickeln, Energiegemeinschaften bilden und sich die Energie nicht einfach nur liefern lassen. Die zweite Chance liegt darin, dass wir in der dezentralen Energiewelt ganz viele neue Technologien brauchen, die uns erlauben, diese volatile und schnelle Verteilung zu steuern. Das sind intelligente Systeme, Leitungssysteme mit neuen Infrastrukturen, Speichersysteme, Innovationen im Wärmebereich. Innovationen müssen wieder stärker von Mittelständler geprägt und getragen werden. 

Und die dritte Ebene?
Dort bieten sich Chance für neue Dienstleistungen und Geschäftsmodelle, und zwar nicht nur für Start-ups. Fast jeder Schornsteinfeger ist heute ausgebildeter Energieberater, der dir sagen kann, was du besser machen kannst. Daraus lassen sich auch neue Geschäftsmodelle entwickeln. In regionalen Netzwerken können die Stadtwerke, Kommunen und Unternehmen dafür mehr zusammenarbeiten. Am Ende steht immer ein Handwerker, egal ob eine Windkraftanlage gebaut, eine Leitung gelegt, ein Kernkraftraftwerk abgerissen wird. Da gibt es auch unglaublich viele neue spannende Berufe. Darin stecken auch neue Chancen, um junge Menschen für das Handwerk zu begeistern.
 
Eignet sich die Region Münsterland, Osnabrücker Land, Emsland und Grafschaft Bentheim gut für den Ausbau erneuerbarer Energien?
Wir haben in unserer Region eine kleinteilige, dezentrale Siedlungsstruktur mit vielen kleinen Orten. Das bringt uns zwar im ÖPNV Probleme, aber diese Siedlungsstruktur bietet optimale Voraussetzungen für dezentrale Energiesysteme. Wichtig ist nur, dass die Verantwortung nun auch auf die regionale Ebene übertragen wird. Damit Unternehmen, Privatpersonen, Kommunen das noch mehr in die Hand nehmen können. Unsere Region ist geprägt durch eine hohe Dynamik, Eigenverantwortung und eine Mentalität des Anpackens. Das ist gut für die Energiewende. Gebürtig komme ich aus dem Ruhrgebiet, dort ist alles verkrustet, die Unternehmen sind nicht so dynamisch, sondern in großen Strukturen aufgebaut.

Wo steht die Energiewende in unserer Region?
Es gibt in allen Kreisen schon sehr viele tolle Entwicklungen. Was unsere Region absolut richtig gemacht hat: Die Unternehmen, Wirtschaftsförderer, Kommunen, alle zusammen sind sehr frühzeitig eingestiegen, haben alle Akteure mitgenommen und die Energiewende angenommen, während andere immer noch dagegen argumentierten. Und wie die Menschen hier so sind: Sie haben das nie an die große Glocke gehängt. Es gibt hier viele mittelständische Unternehmer und Unternehmerinnen – und die unternehmen etwas. Wenn sich Rahmenbedingungen ändern, und dadurch neue Chancen ergeben oder auch Probleme auftauchen, sind sie es gewohnt, zu reagieren. Wir sind eine Vorzeigeregion für die Energiewende.

Wie wird sich der Ausbau der erneuerbaren Energien weiterentwickeln?
Wir sind so gut aufgestellt, dass diese Region den Beitrag, den sie für die Energiewende leisten kann, auch leisten wird. Ich sehe hier keine internen Hemmnisse, warum das hier nicht dynamisch weiterlaufen sollte. Wir haben super funktionierende Kooperationen – über den Münsterland e.V. die Emsachse bis hoch in den Norden. Darüber hinaus bin ich skeptischer. Auf Dauer wird die Energiewende kommen, aber im Moment ist es so, dass sie ein Stück ausgebremst wird, weil man zu stark auf Absichern statt auf Veränderung fokussiert.

 

 

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