Rhede

Jürgen Bernsmann: „Wir brauchen eine definierte Belastungsgrenze“

Was er sich von der Bundespolitik im Umgang mit der Flüchtlingssituation wünscht, warum die Stadt Rhede beim Breitbandausbau ihren eigenen Weg geht und wie die Wirtschaft vor Ort zurzeit aufgestellt ist, erklärt Bürgermeister Jürgen Bernsmann im Interview mit Wirtschaft aktuell.

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Herr Bernsmann, ein Thema, das die Kommunen landauf, landab zurzeit sehr bewegt, ist die Flüchtlingssituation. Wie stellt sich die Lage in Rhede aktuell dar?
Wie in vielen anderen Kommunen auch, ist in Rhede die Belastungsgrenze bei den Flüchtlingszuweisungen erreicht. Aktuell haben wir 395 (Anm. d. Red.: Stand November 2023) geflüchtete Menschen aufgenommen. Von Monat zu Monat kommen mehr Personen aus der Ukraine, Syrien, Afghanistan, Türkei und Russland nach Rhede. Das ist für eine Kommune in unserer Größe eine enorme Zahl und erinnert an die Flüchtlingskrise 2015. Wir werden deshalb kurzfristig einen Teil des Leichtathletikzentrums Rhede als Unterkunft nutzen – das kann aber nur eine Übergangslösung sein. Parallel bauen wir die bestehenden Wohnanlagen, die wir 2015 und 2016 in Holzrahmenbauweise errichtet haben, weiter aus. 40 Personen werden wir dort unterbringen können. Wir haben außerdem zwei weitere Standorte im Auge, an denen ebenfalls Wohnanlagen entstehen könnten. Klar ist aber jetzt schon, dass auch das nicht reichen wird. Und mit dem Bau von Unterkünften ist es schließlich nicht getan – wir benötigen auch entsprechende Betreuungs- und Bildungsangebote für die geflüchteten Menschen und ihre Familien. Der Bau solcher Einrichtungen kostet Geld, das wir aktuell nicht adäquat erstattet bekommen.

Was würden Sie sich von der Politik wünschen?
Es darf keine unbegrenzte Zuweisung von geflüchteten Personen in die Kommunen geben. Insbesondere wenn es sich dabei um Menschen handelt, die nicht aus humanitärer Not angesichts eines Kriegs flüchten, sondern aus wirtschaftlichen Gründen eine bessere Zukunft in Deutschland suchen. Wir brauchen eine definierte Belastungsgrenze für Kommunen und es sollten auch nur Personen mit Bleiberechtsperspektive zugewiesen werden – nur dann macht eine Integrationsarbeit auch wirklich Sinn. Deshalb habe ich mich gemeinsam mit meinen Amtskolleginnen und -kollegen aus dem Kreis Borken sowie aus der Kreisverwaltung mit einem Hilferuf an Land und Bund gewandt. Wir haben schon im vergangenen Jahr darauf hingewiesen, dass die Kapazitäten knapp werden, aber zu dem Zeitpunkt stand bei der Politik vor allem im Fokus, wie wir energetisch durch den Winter kommen. So richtig ernstgenommen wurden unsere Bedenken angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen nicht. 

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die jüngsten Beschlüsse der Bund-Länder-Konferenz zur Migrationspolitik?
Dass es eine bundesweit einheitliche Bezahlkarte an Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geben soll, begrüße ich. Das wird unseren Verwaltungsaufwand reduzieren und verhindert, dass geflüchtete Menschen die finanziellen Mittel ins Heimatland schicken, anstatt damit ihren Lebensstandard und ihre Integration hier vor Ort zu fördern. Wir benötigen aus meiner Sicht außerdem europaweit einheitliche Sozialleistungen, 
damit nicht nur einige wenige Länder, in denen die Bedingungen am besten sind – wie Deutschland –, als Zufluchtsort gefragt sind. Auch den Anspruch auf schnellere Rückführungen von Personen ohne Bleiberecht sowie die schnellere Arbeitsaufnahme befürworte ich. Deutlich mehr Bauchschmerzen bereitet mir aber ein anderer Punkt der Konferenz.

Welcher?
Die Festlegung einer jährlichen Pauschale für Asylantragstellende von 7.500 Euro. Das ist eine Steigerung von nur 2.000 Euro, die auch erst ab 2024 und nicht rückwirkend gezahlt wird. Die Kommunen hatten aber mit dem Ausbruch des Ukrainekrieges die Versorgung und Unterbringung einer stark angestiegenen Anzahl an Geflüchteten zu gewährleisten. Aktuell, also noch ohne die zusätzlichen 2.000 Euro des Bundes, erhalten die Kommunen von Bund und Land 875 Euro pro Monat und Flüchtling. Die Pauschale deckt bei Weitem nicht die Kosten, die bei uns als Kommune entstehen. Allein die Kosten für die neu zu errichtenden Unterkünfte belaufen sich auf etwa drei Millionen Euro. Bei einem Gesamtdefizit im Rheder Haushalt für 2024 von 6,2 Millionen Euro wird die Flüchtlingsunterbringung also auch finanziell zu einer echten Belastung.

Als Bürgermeister sind Sie im stetigen Austausch mit den Unternehmen. Wie geht es der Wirtschaft in Rhede zurzeit?
Im Großen und Ganzen geht es den Unternehmen in Rhede immer noch einigermaßen gut – trotz der zahlreichen globalen Herausforderungen. Im Baugewerbe gibt es leider das eine oder andere Unternehmen, das wirtschaftlich ins Schwimmen gerät, und wir haben aktuell sogar einen Insolvenzfall erlebt. Aber insgesamt betrachtet ist der Standort Rhede gut aufgestellt, da die Wirtschaft nicht von einer einzelnen Branche abhängt, sondern sehr breit aufgestellt ist. Auch wenn ein Einzelgewerbe wie aktuell die Baubranche etwas wackelt, wirft es nicht gleich den gesamten Standort aus der Bahn. Diesen Eindruck bestätigen mir die Unternehmerinnen und Unternehmer auch immer wieder bei meinen Unternehmensbesuchen und zuletzt auch beim Wirtschaftsdialog, der Ende November stattfand.

Welche Herausforderungen beschäftigen die Rheder Unternehmen aktuell besonders?
Der Fachkräftemangel ist neben den gestiegenen Energiekosten und der Inflation das Problem, das die Unternehmen besonders beschäftigt. Die Auftragsbücher sind voll und einige Unternehmen möchten sich vor diesem Hintergrund vergrößern – sie können es aber schlichtweg nicht, weil ihnen das Personal fehlt, das die Aufträge abarbeitet. 

Apropos Fachkräfte: Entscheidend für einen attraktiven Wirtschaftsstandort ist auch das Angebot an entsprechenden Wohnmöglichkeiten. Wie ist Rhede da aufgestellt?
Da sind wir in Rhede eigentlich schon immer gut aufgestellt gewesen. Aktuell entwickeln wir drei Wohnbaugebiete. Erstens: das Wohngebiet Beet­hovenstraße 2 als Erweiterung von Beethovenstraße 1. Zweitens: das ehemalige Gelände des Sportvereins DJK Rhede. Drittens: das Baugebiet auf der ehemaligen Hofstelle Mümken Richtung Krechting. Im Stadtentwicklungskonzept haben wir Flächen festgelegt, die perspektivisch bebaut werden können. 16 Hektar konnten wir bereits käuflich erwerben, sodass wir in Sachen Wohnbauentwicklung für die nächsten fünf bis zehn Jahre gut aufgestellt sind.

Zurzeit arbeitet die Stadtverwaltung an der Fortschreibung der Klimaschutzkonzepts. Wo steht die Stadt bei der Umstellung auf erneuerbare Energien?
Was den Ausbau von Windenergieanlagen anbetrifft, haben wir einen weiteren Aufschlag gemacht. Durch eine Gesetzesänderungen sind Naturschutzgebiete vorübergehend keine Tabu-Zonen mehr, was einen weiteren Ausbau mit Windenergieanlagen ermöglicht. Daraufhin ist das gesamte Rheder Stadtgebiet im Wege einer Positivplanung untersucht worden. Sechs Gebiete haben sich herauskristallisiert, in denen Windräder aufgestellt werden könnten. Für zwei dieser Gebiete gibt es nun konkrete Pläne von Investoren, die diese bereits im Bauausschuss vorgestellt haben und wofür wir nun den politischen Auftrag zur Änderung des Flächennutzungsplanes erhalten haben. Die erforderlichen Gutachten und Untersuchungen wurden jetzt beauftragt. Dadurch soll geklärt werden, wo wie viele Windkraftanlagen entstehen können. Parallel treiben wir den Ausbau von Photovoltaik voran. Auf den Dächern von Privathäusern und Gewerbeimmobilien wurden schon zahlreiche PV-Anlagen installiert. Potenzial gibt es aber sicherlich noch bei den sogenannten Freiflächenanlagen. Dafür brauchen wir einheitliche Standards. Daher wollen wir das Thema in den kommenden Wochen in der Politik erörtern. Insgesamt ist Rhede auf einem guten Weg bei der Energiewende. 

Bis 2028 müssen Sie zudem eine kommunale Wärmeplanung für Rhede aufstellen. Wie weit sind Sie?
Wir sind dazu mit unserem lokalen Energiedienstleister, den Stadtwerken Rhede, im engen Austausch. Für die Aufstellung der kommunalen Wärmeplanung haben wir bereits Fördergelder bewilligt bekommen. Jetzt müssen wir in die Umsetzung gehen. Ganz so einfach ist das aber rechtlich nicht, weil diverse Formalitäten einzuhalten sind. Deshalb prüfen wir das ganze Verfahren zurzeit und wollen dann mit der Konzepterstellung starten. 

Ein weiterer Standortfaktor ist die Breitbandanbindung. Wie ist da der Stand der Dinge?
Grundsätzlich ist die Stadt Rhede beim Glasfaserausbau schon sehr gut aufgestellt. Das Stadtgebiet ist größtenteils angebunden, die Schulen und auch alle Gewerbegebiete sind bereits mit Glaserfaser erschlossen. Den Ausbau hatten wir – Gott sei Dank – schon vor der Corona-Pandemie abgeschlossen, sodass Arbeiten von zuhause und Homeschooling in Rhede problemlos möglich waren. Aktuell haben 95 Prozent der Adressen in Rhede einen Breitbandanschluss mit einer Downloadgeschwindigkeit von über 50 Megabit pro Sekunde. Rund 88 Prozent kommen sogar auf ein Datenvolumen von mindestens 100 Megabit pro Sekunde. Das ist schon sehr gut, aber eben noch nicht ganz flächendeckend. Die Gebiete, die noch nicht über eine Übertragungsgeschwindigkeit von mindestens 100 Megabit pro Sekunde verfügen, nehmen wir jetzt in Angriff. Dabei haben wir uns aber bewusst gegen die finanzielle Unterstützung aus der sogenannten Graue-Flecken-Förderung, die der Kreis Borken auf den Weg gebracht hat, entschieden.

Warum?
Weil wir in der erfreulichen Lage sind, den Ausbau dieser Areale besser eigenwirtschaftlich stemmen zu können. Zum einen ist der Ausbau hier und da schon angelaufen, sodass wir nicht länger auf eine Bewilligung von Fördermitteln und eine anschließende Umsetzung in drei bis vier Jahren warten wollen. Wir rechnen damit, dass wir die betreffenden Gebiete schon bis 2025 anschließen können. Zum anderen können unsere Stadtwerke die betreffenden Hausanschlüsse im eigenwirtschaftlichen Verfahren tatsächlich günstiger anbieten als es im geförderten Ausbau der Fall wäre. Die Zeitschiene und die Kosten waren für uns daher ausschlaggebend, uns nicht an der Graue-Flecken-Förderung zu beteiligen. 

Herr Bernsmann, wenn Sie drei Wünsche für Rhede frei hätten, welche wären das? 
Mein erster Wunsch wäre der Bürokratieabbau. Das ist zwar in jeder Bundestagswahl ein Thema und auch jede Landesregierung verspricht es, aber als Kommune haben wir den Eindruck, dass sich in Sachen Bürokratieabbau rein gar nichts tut. Im Gegenteil: Die Verwaltungsarbeit wird immer aufwendiger. Jede Entscheidung, jede Förderung muss wieder ganz eigene Vorgänge und Prüfungen durchlaufen – vom Land, von der Bezirksregierung, von uns als Kommune. Das kostet Zeit und Ressourcen. Ich glaube, dass wir einige Projekte wesentlich schneller und wirtschaftlicher umsetzen könnten, wenn es weniger Bürokratie gebe. Mein zweiter Wunsch wäre, dass es keine weiteren Aufgabenverschiebungen vom Bund aufs Land NRW und dann letztlich auf uns Kommunen gibt. Damit meine ich insbesondere Wahlversprechen, mit denen auf Bundes- und Landesebene gepunktet wird, die dann aber letztendlich die Kommunen in die Praxis umsetzen müssen. Viele dieser Aufgaben sind nicht zu schaffen, denn auch wir leiden unter akutem Fachkräftemangel.

Und der dritte Wunsch?
Eine auskömmliche Finanzierung der Kommunen. Wir haben uns bereits gemeinsam mit dem Städte- und Gemeindebund in einem Schreiben an Ministerpräsident Hendrik Wüst gewandt. Viele Kommunen bringen jetzt hoch verschuldete Haushalte ein, weil sie mehr Aufgaben als zuvor vom Land übernehmen müssen. Aus meiner Sicht muss gelten: Wenn Aufgaben an die Kommunen delegiert werden, dann muss das Konnexitätsprinzip eingehalten werden. Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen.

Das Interview führte Anja Wittenberg

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